"Ein Beitrag zur Optimierung des schnellen Schienenpersonenfernverkehrs auf Strecken der Deutschen Bundesbahn"; Dissertation 20.06.1984
Gegenstand der Untersuchung ist der schnelle Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) auf dem künftigen Streckennetz der DB. Betrachtet wird die Zeit nach Vollendung des Streckenbauprogramms, etwa im Jahr 1995.
Der gegenwärtige Anteil der DB am Personenfernverkehr ist ebenso unbefriedigend wie ihre Ertragslage. Zu fragen ist, wie die Bahn künftig ihre Verkehrsleistungen im schnellen SPFV erhöhen kann, wo die Grenze dieser Verkehrsleistung liegt und wie sich die Wirtschaftlichkeit des Betriebs dabei entwickelt. Außerdem ist die Lage des betriebswirtschaftlichen Optimums von großem Interesse.
Die Analyse der vorhandenen Schnellverkehrssysteme im In- und Ausland lehrt, wo die Gründe für den späteren Markterfolg liegen: in der systemtechnischen Durcharbeitung des Konzeptes, die der Realisierung eines Innovationsschubs vorausgeht. Die von Verkehrswissenschaftlern wie Lehmann oder Weigelt /82, 83/ vertretene Auffassung, daß nur durch systemtechnische Analysen Klarheit über die Zusammenhänge im Verkehrswesen geschaffen werden kann, hat sich dabei voll bestätigt.
Der SPFV wird im folgenden als besondere Erscheinungsform des allgemeinen Bahnsystems behandelt. Alle Komponenten des SPFV-Systems werden einer kritischen Analyse unter dem Aspekt der zielgerichteten Fortentwicklung unterworfen.
Bezugspunkt eines anwendungsgerechten Systementwurfs für den SPFV ist letztlich der Mensch, der Reisende im Fernverkehr. Der prognostizierte Mehrverkehr - und damit die Mehreinnahme -kommt nur zustande, wenn das Angebot in allen Komponenten so attraktiv ist, daß der Reisende die Bahn als Verkehrsmittel allen anderen vorzieht.
Die deutsche Rad/Schiene-Forschung hat zwar das Thema "Der Mensch im Rad/Schiene-System" als Forschungstitel an letzter Stelle im Bereich,,Umweltfragen" aufgenommen, aber hierzu
bisher keine Aktivitäten entwickelt.
In dieser Studie hingegen steht der Fernverkehrsreisende im Mittelpunkt aller überlegungen. Seine Bedürfnisse und sein Verhalten sind bei der Gestaltung des technischen Systems vorrangig zu berücksichtigen. Die Analyse und Prognose des Nachfrageverhaltens der Reisenden-Zielgruppen führt unmittelbar zu der Erkenntnis, daß sowohl das Streckenbauprogramm als auch das bisher geplante Betriebsprogramm für den künftigen IC-Verkehr nicht zu optimalen Ergebnissen führen können.
Modifikationen sind notwendig, wobei Unzulänglichkeiten der Infrastruktur soweit wie möglich durch verbesserte Schienenfahrzeuge ausgeglichen werden müssen. Darauf ist allerdings das Rad/Schiene-Forschungsprogramm nicht abgestellt: hier geht es vorwiegend um die Erkundung technisch-wirtschaftlicher Grenzen bei 350 km/h.
Im mittelfristig realisierbaren Schnellverkehr erfordert die Interaktion Mensch/Bahnsystem besondere Aufmerksamkeit. Auf der Basis veröffentlichter Forschungs- und Studienergebnisse mußte eine Anzahl neuer Richt-und Grenzwerte hergeleitet werden, um die Akzeptanz neuer SPFV-Systeme zu gewährleisten:
- Entwicklung von Meßgrößen für Sitzplatzgröße und Fahrkomfort
- Bemessung der erforderlichen Sitzplatzkapazität der Züge aus einer statistisch gesicherten Vorgabe
- Entwicklung eines Berechnungsverfahrens für den zulässigen überhöhungsfehlbetrag
- analytische Ermittlung der Drucksprünge bei Tunnelfahrt und ihrer Auftrittswahrscheinlichkeit.
Hiermit werden zugleich wesentliche Randbedingungen für den Handlungsspielraum in technischer, betrieblicher und betriebswirtschaftlicher Hinsicht festgelegt.
Im Teilsystem Fahrzeugtechnik mußten aus dem vorhandenen Rollmaterial (ICE und TGV) zielorientiert optimierte Züge entwickelt und in wesentlichen Eigenschaften wie Zugkraftverlauf, Widerstandsfunktion im Freien und bei Tunnelfahrt sowie hinsichtlich der zu erwartenden Kostengrößen untersucht werden.
Die Auslotung der technischen Reserven in der Infrastruktur konnte nur streckenspezifisch durchgeführt werden. Der notwendigerweise hohe Genauigkeitsgrad in der zugelieferten Verkelersprognose macht eine Beschränkung der Aussage auf den detailliert untersuchten Teil des Liniennetzes erforderlich. Insofern hat die Untersuchung Pilotcharakter. Die Pilotstrecke, zusammengesetzt aus Ausbaustrecke, Neubaustrecke und Altstrecken, spiegelt den heterogenen Zustand des IC-Netzes im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wieder.
Auf dieser Pilotstrecke wird das Zusammenwirken der Systemkomponenten parametrisch durchgespielt; Fahrzeit- und Energieverbrauch, Investitions-und Betriebskosten sowie die zu erwartenden Erlöse werden ermittelt.
Für den Betrieb mit lokbespannten IC-Zügen und 200 km/h Höchstgeschwindigkeit konnte eine deutliche Steigerung der Fahrgastzahlen und des Gewinns gegenüber dem heutigen Zustand festgestellt werden. Voraussetzung dafür ist aber die Nachrüstung aller Wagen, um das notwendige Qualitätsprofil auch beim Betrieb auf Neubaustrecken einzuhalten.
Als Gewinnmaximierung ergibt sich das betriebswirtschaftliche Optimum, wenn mit Zügen der ICE-Technologie auf der modifizierten Strecke (NBS und ABS) mit V -< 250 km/h und zul üf -150 mm gefahren wird. Das Angebot ersetzt und erweitert den bisherigen IC-Verkehr im 1 -h-Takt.
Als Attraktivitätsmaximierung ist der 1/2-h-Takt mit max V = 275 km/h anzusehen; hierfür sind Züge mit gleisbogenabhängiger Wagenkastensteuerung und 3 Sitzplätzen/Reihe im Großraum 2. Klasse vorgesehen. Die Nachfrage steigt dabei auf mehr als das Eineinhalbfache des derzeitigen Wertes. Inwieweit wegen des Ersatzes bisheriger Zugleistungen anderer Gattungen durch die ICE-Züge Fahrgast- und Betriebskostenumlagerungen auftreten, kann nur durch weitere Detailstudien geklärt werden.
Die Ergebnisse stellen fahrzeug-, strecken- und linienspezifische Paketlösungen dar, die exakt nur unter den einzeln quantifizierten Annahmen gelten.
Die Anwendung der entwickelten Systemtechnik auf andere IC-Linien erscheint sinnvoll, da sich hierdurch insbesondere die durchschnittlichen Transportzeiten gegenüber dem bislang geplanten Zustand noch einmal erheblich kürzen lassen.
Berücksichtigt man die wirtschaftliche Lage der DB, so wird bei kommerziell geprägter Handlungsweise die Gewinnmaximierung anzustreben sein.
Nach Voigt /84/ ist jedoch auch zu berücksichtigen, daß Gewinn und Verlust zunächst nur betriebswirtschaftliche Kategorien für die Rechnungslegung eines Unternehmens darstellen. Diese Größen - so Voigt - sind nicht unbedingt geeignet, auch die viel wichtigere Frage zu beantworten, ob sie gleichbedeutend sind mit positiv oder negativ zu bewertenden Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft.
Weiterführende Untersuchungen, die außer den betrieblichen die sozioökonomischen Auswirkungen des 1/2-h-Taktes behandeln, müßten klären, ob dieser Betriebsform der Vorzug zu geben ist. Bei positivem Ergebnis wäre dann einer Alternative, die alle zielorientierten Forderungen erfüllt, der Weg geebnet.