"Die Verkehrssituation in Ballungsräumen der Entwicklungsländer und Möglichkeiten zu ihrer Verbesserung - dargestellt am Beispiel Kairo"; Dissertation 19.12.1980
Trotz des niedrigen Bruttosozialproduktes und geringen Lebensstandards in den Entwicklungsländern sind in zahl-reichen Ballungsgebieten dieser Länder die Verkehrsprobleme mindestens ebenso groß und teilweise noch größer als in hochentwickelten Industrieländern.
Erstes Hauptziel der vorliegenden Arbeit ist es, nachzuweisen, daß für die Lösung der Verkehrsprobleme in den Großstädten der Entwicklungsländer die für diese Probleme in den Industrieländern bewährten Modellvorstellungen, Verfahren und Technologien nur mit Vorbehalt auf die Entwicklungsländer übertragen werden können. Außerdem sind für diese Länder neue Methoden zu entwickeln.
Zu diesem Zweck werden in der Arbeit zunächst die allgemeinen Ursachen der Problematik des Stadtverkehrs analysiert und die typischen Verkehrsschwierigkeiten als Auswirkungen dieser Situation dargestellt. Die Analyse der strukturellen und verkehrlichen Situation in 22 Großstädten von Entwicklungsländern sowie die Darstellung der Verkehrsschwierigkeiten in diesen Städten zeigen deutlich, daß die Ursachen und die Auswirkungen der Verkehrsprobleme anders geartet sind, als in den entwickelten Industrieländer. Deshalb werden für die Prognose der Verstädterung in den Entwicklungsländern sowie der Zuwanderung, der Motorisierung und der Verkehrsmittelaufteilung auf die verschiedenen Fahrzeugarten in den Großstädten der Entwicklungsländer unter Berücksichtigung sozio-demographischer und struktureller Daten neue Modelle entwickelt.
Da jedes Entwicklungsland - bedingt durch seine kulturelle und historische Entwicklung - seine spezifischen Verkehrsprobleme besitzt, werden zur zahlenmäßigen Konkretisierung von Verbesserungsvorschlägen die Verkehrsinfrastruktur sowie die Verkehrsverhaltensweisen der Bevölkerung am Beispiel des Großraumes Kairo analysiert. Hierzu wurde auch die allgemeine Struktur des Großraumes Kairo dargestellt, so daß die vorhandenen Verkehrsverhältnisse auf ihre Ursachen zurückgeführt und damit als Grundlage für eine sinnvolle Prognose für die zukünftige Verkehrsnachfrage aufbereitet werden können. Der Großraum Kairo -als prägnantes Beispiel zur Darstellung der Problematik des Stadtverkehrs in den Entwicklungsländern - ist für den vorgesehenen Forschungszweck besonders geeignet, da hier die komplexen Probleme von Stadt und Verkehr sehr deutlich zutage treten. Diese Analyse ermöglicht sowohl die Beurteilung der Verkehrssituation und das Erkennen akuter Probleme und deren Ursachen als auch die Ermittlung der Abhängigkeit der Verkehrsnachfrage von der Siedlungs- und Verkehrsinfrastruktur sowie der menschlichen Verhaltensweisen.
In einem weiteren Teil der Arbeit wird die Anwendung der unterschiedlichen Verkehrsmodelle in den Entwicklungsländern kritisch beurteilt mit dem Ergebnis, daß komplexe ,,Feinverkehrsmodelle" in den Entwicklungslädern wegen zu geringer Datenqualität zu schlechteren Ergebnissen als einfachere Modelle führen. Daher ist in den meisten Fällen die Anwendung eines Grob-Modells völlig ausreichend. Aufgrund dieser Ergebnisse können ein verkehrszweckspezifischer sowie ein verkehrsmittelspezifischer Ansatz für den Großraum Kairo entwickelt werden, mit denen die Mobilität der Verkehrsteilnehmer für ähnliche Verkehrsverhältnisse prognostiziert werden kann.
Da die meisten Entwicklungsländer nicht die finanziellen Möglichkeiten für große Investitionen zur langfristigen Verbesserung der Verkehrsverhältnisse besitzen, werden im fünften Teil der vorliegenden Arbeit als weiteres Hauptziel Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Verkehrsschwierigkeiten mit geringem finanziellen Aufwand möglichst kurzfristig abzubauen und zu entschärfen sind. Dazu werden die wesentlichen Grundsätze für eine Planung und Gestaltung des Nahverkehrs in den Entwicklungsländern definiert, die in diesen Ländern als Leitlinie und Entscheidungshilfen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse dienen können. Die Leitlinie dieser Grundsätze wird als dynamischer Verkehrsprozeß bezeichnet, mit dem die Planung in verschiedenen Arbeitsschritten verfolgt werden kann.
Aufgrund der gleichartigen Probleme im Stadtverkehr der Entwicklungsländer werden allgemeingültige Zielvorstellungen entwickelt, die - bezogen auf das konkrete Unter-suchungsobjekt - nach den jeweiligen situationsspezifischen Mängeln in problemorientierte Ziele umzusetzen sind. Für den Planungsprozeß wird aufgrund der allgemeingültigen Zielvorstellungen ein Katalog denkbarer Maßnahmen auf der Basis eines Zweck-Mittel-Schemas konzipiert. Zusätzlich werden die erforderlichen Randbedingungen zur Aufstellung von Verkehrsmodellen bzw. zur Realisierung der jeweiligen Maßnahmen beschrieben. Anschließend werden die ordnungs-politischen Einflußmöglichkeiten auf den Stadtverkehr sowie die möglichen Reaktionen der Bevölkerung auf derartige Maßnahmen aufgezeigt.
Da die Effizienz der vorgeschlagenen Maßnahmen hauptsächlich von den örtlichen Gegebenheiten sowie von der Elastizität der Nachfrage hinsichtlich der Maßnahmen abhängig ist, wird die Effizienz durch ein Elastizitätsverfahren mit Hilfe eines Makro-Bewertungs-Modells ermittelt. Das Makro-Bewertungs-Modell, das in dieser Arbeit in Form eines dynamischen Modells für die Entwicklungsländer aufgestellt ist, kann einerseits zur Beurteilung des Ist-Verkehrszustandes und andererseits zur Bewertung der durchgeführten Maßnahmen mittels Vorher-Nachher-Beobachtungen dienen.
Mit der Bewertung der konzipierten Maßnahmen ist der Planungsprozeß allerdings noch nicht beendet. Vielmehr sollte im Rahmen einer notwendigen Fortsetzung dieser Arbeit ein sogenanntes maßnahmeempfindliches Nachfragemodell auf der Basis von Vorher-Nachher-Beobachtungen entwickelt werden, das in der Lage sein müßte, die Verkehrsnachfrage bei sich ändernden Bedingungen möglichst wirklichkeitsgetreu zu prognostizieren. Denn nur mit Hilfe eines derartigen maßnahmeempfindlichen Nachfragemodells wird die Realisierung weiterer Verbesserungen der Verkehrsverhältnisse in den Großstädten der Entwicklungsländer wirkungsvoll möglich sein.