In der mittelständisch geprägten Galvanikindustrie treffen mechanische Anlagenkomponenten auf elektrochemische Prozesstechnik, was Fachwissen aus den verschiedensten Disziplinen erfordert. Die Herstellung galvanotechnischer Oberflächen gehört somit zu den komplexesten Fertigungsprozessen in der Metallverarbeitung. Bisher erfolgt der Vertrieb von Anlagen, Chemikalien, Steuerungssystemen und technischer Gebäudeausrüstung fragmentiert und stark produktorientiert. Einzellösungen zu integrieren ist zeitaufwendig und die Erfolgsquote hängt erheblich vom jeweiligen Galvanikbetrieb ab. Zusätzlich angebotene Dienstleistungen sind selten und beziehen sich meist sehr abgegrenzt auf einzelne Produkte, wie z.B. die elektrochemische Analyse von Elektrolyten durch Chemikalienhersteller.
Der digitale Zwilling wird als cyber System in einem sogenannten cyber-physischem System eingebettet (siehe Abb.), in welchem Zustandsdaten aus der Beschichtungsanlage gezielt zur vorausschauenden Wartung des Galvanikbetriebes aufbereitet werden. Dafür werden Big Data und Simulationsansätze zur Realisierung der intelligenten Dienstleistung eingesetzt. Diese ermöglichen einerseits eine vorausschauende Bündelung von Wartungsarbeiten und andererseits im akuten Wartungs-/Störfall umfangreiche Informationen zur Anlage in Echtzeit mittels AR Technologien bereitzustellen.
Das Dienstleistungssystem wird zunächst für elektrochemische Prozesse bei dem galvanotechnisch Anwendungspartner B+T entwickelt und iterativ erprobt. Der zu entwickelnde Ansatz wird durch seine Modularität generisch sein und sich später problemlos auf weitere industrielle Prozesse und Anlagen übertragen lässt. Insbesondere eignet sich der neue Ansatz für klein- und mittelständische Unternehmen als Galvanikanlagenbetreiber, da diese aufgrund des fehlenden Fachwissens von intelligente Dienstleistungen in besonderem Maß profitieren und durch effizientere Prozesse ihre globale Wettbewerbsposition verbessern können.
Nachdem in einem Vorprojekt die technische Machbarkeit eines digitalen Zwillings gezeigt wurden, soll dieser Ansatz im Rahmen dieses Forschungsprojektes in intelligente Dienstleistung überführt werden. Dafür wird eine modular aufgebaute technische Systemlösung für intelligente Dienstleistungen im Hinblick auf einen ganzheitlich optimierten Betrieb und Wartung von Galvanikanlagen entwickelt. Einzelne Dienstleistungsmodule werden für die galvanotechnischen Prozesse und Anlagen sowie die zugehörige Peripherie (z.B. Abluft und Abwasser) entwickelt. Die intelligenten Dienstleistungen werden durch den digitalen Zwilling der Galvanikanlage beim Dienstleistungsanbieter ermöglicht, welche die Zustandsdaten der verschiedenen Systemkomponenten vernetzt und darauf für den Kunden Mehrwert schöpft. Dabei wird der gesamte Beschichtungsprozess einbezogen einschließlich der eingesetzten Prozesschemikalien und der peripheren Anlagentechnik.
Leiden, Alexander; Kölle, Stefan; Thiede, Sebastian; Schmid, Klaus; Metzner, Martin; Herrmann, Christoph: Model-based analysis, control and dosing of electroplating electrolytes In: The International Journal of Advanced Manufacturing Technology, Springer Nature, Cham, 2020, Ausgabe Volume 111, Issue 5-6, Seite 1751-1766, DOI 10.1007/s00170-020-06190-0
Leiden, Alexander; Herrmann, Christoph; Thiede, Sebastian: Cyber-physical production system approach for energy and resource efficient planning and operation of plating process chains In: Journal of Cleaner Production, Elsevier B.V., Amsterdam, 2020, DOI 10.1016/j.jclepro.2020.125160
Kölle, Stefan; Leiden, Alexander; Schwanzer, Peter; Thiede, Sebastian; Metzner, Martin; Herrmann, Christoph: Industrie 4.0 in der Galvanotechnik In: Galvanotechnik, Leuze Verlag, Bad Saulgau, 2020, Ausgabe 5, Seite 700-708