Walrat (Dezember)

Objekt des Monats

An dieser Stelle stellen wir in regelmäßigen Abständen besonders interessante Objekte aus der pharmaziehistorischen Sammlung Braunschweig vor. Neben dem großen, von Wolfgang Schneider in den 1950er Jahren begonnenen Bestand der Forschungssammlung befinden sich heute auch Objekte aus pharmakognostischen Sammlungen sowie aus verschiedenen Apotheken des 19. und 20. Jahrhunderts im Bestand. Auf der rechten Seite finden Sie einige Objekte aus den vergangenen Monaten!

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt

Abb. 1: Pottwal. Pomet 1717

Beim Anblick von festlich beleuchteten Weihnachtsbäumen ist heute kaum vorstellbar, dass noch im 20. Jahrhundert Kerzen aus Walrat gefertigt wurden.

Walrat ist eine wachsartige Substanz, die im „Spermaceti-Organ” in der Kopfhöhle des Pottwals (Physeter macrocephalus, syn. Physeter catodon) vorkommt. Andere Bezeichnungen sind Cetaceum, weißer Amber und Spermaceti. Adam Lonitzer verwies 1679 darauf, dass das Mittel „bald hilfft und Rath thut in etlichen gebrechen“, woraus sich sprachlich die deutsche Bezeichnung „Walrat“ ableiten lässt.

Im 17. und 18. Jahrhundert wurde Walrat für das Gehirn (Abb. 1) und zuvor für Samen oder Sperma des Wals gehalten, und das, obwohl auch weibliche Pottwale die gleiche anatomische Strukturen des Kopfes aufweisen (Abb. 2). Daher stammt auch die Bezeichnung Spermaceti für die Substanz und das Organ.

Pierre Pomet war sich 1717 sicher, dass die Substanz des Walrats auf das Gehirn des Walfischs zurückging: „[...] darf man hinfort nicht mehr glauben, daß der Wallrat etwas anderes als des Wallfisches Gehirn sey.“

Abb. 2: Kopf des Pottwals: Anatomie

Ursprünglich war vor allem das Fett der Wale (Speck oder Blubber, s. Abb. 1 ) begehrt, das ausgekocht zu Tran verarbeitet und erst nach 1900 vom günstigeren Mineralöl verdrängt wurde. Die Gewinnung des Trans oder Walöls als Brennstoff wurde zum Motor des Walfangs mit dramatischen Auswirkungen auf die Walpopulationen.

Bis zu drei Tonnen Spermaceti kann das Organ (Abb. 2) eines 15 Meter langen Tieres enthalten. Seine Funktion ist bis heute nicht vollständig wissenschaftlich geklärt.

Bei Körpertemperatur ist Spermaceti eine flüssige, dunkelgelbe, klare Substanz. Beim Erkalten scheidet sich eine feste, bräunliche Masse Rohwalrats (ca. 11 %) vom dünnflüssigen, hellgelben Walratöl ab. Nach Aufreinigung und Kühlung entsteht das weiße, transluzente Walrat (Abb. 3), das chemisch hauptsächlich aus Estern von langkettigen Fettsäuren, wie Cetylpalmitat, besteht. Nach längerem Stehen verfärbt es sich gelblich.

Abb. 3: Walrat, Ende 19. Jhd., Arzneimittelhistorische Sammlung

Walrat gewann Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine größere kommerzielle Bedeutung für die Herstellung von besonders hell brennenden Kerzen und Schmiermitteln, das Walratöl für die Beleuchtung von Straßen und Leuchttürmen.

Sogenannte „Spermacetikerzen“ waren insbesondere in England und Nordamerika (Abb. 4) gebräuchlich. Sie brannten sauber mit hellleuchtender Flamme, verursachten keine Flecken und avancierten zu begehrten Luxusartikeln. Die Herstellung dieser Kerzen entwickelte sich zu einem wichtigen Wirtschaftszweig und beeinflusste die Walfangindustrie an der amerikanischen Ostküste. Sogar die Kerzenstärke bzw. CP (Candle Power), eine heute veraltete Einheit der Lichtstärke, wurde auf Basis einer Kerze aus purem Walrat definiert.

Abb. 4: Kerzen aus Walrat ©Nantucket Historical Association

Allerdings bestanden nur die Kerzen zum Messen der CP vollständig aus Walrat, da dieses in festem Zustand brüchig ist. Bei der Kerzenfabrikation wurden dem Walrat andere Wachse, z.B. Bienenwachs, Stearin oder Paraffin, zugesetzt. Für die Messung der Kerzenstärke war die Qualität und Menge der zugesetzten Stoffe jedoch genau definiert. Die Erfindung des Stearins und die Entwicklung der Fettchemie brachte langfristig Bewegung in den Kerzen-Markt: Hatten die Walrat-Kerzen Mitte des 18. Jahrhunderts klare Vorteile gegenüber den sonst verwendeten Bienenwachs-Kerzen sowieso den leicht rußenden Talglichtern, so kam in den 1830ern mit den (fast) reinen Stearin-Kerzen ein kostengünstiger und ästhetisch ebenso überzeugender Konkurrent auf den Markt. Da Stearin ebenfalls brüchig war, hatte der Wettlauf um die richtigen Gießtechniken und besten Zusätze allerdings ein paar unerfreulich­e Nebengleise. Darüber, woraus das "Geheimrezept" des Herstellers der "Bougies d'Ètoile" bestand und welche Ängste danach eine Weile als Dünste von den Stearinkerzen aufstiegen, können Sie hier  (Buchkapitel, Abschnitt IV) ab S. 151 lesen.

Auch haben die Spermaceti-Kerzen einen Platz in der Weltliteratur erhalten: mit Herman Melvilles Roman „Moby-Dick“. Das 1851 veröffentlichte Werk liefert einen genauen Bericht über die Walfangindustrie, die Gewinnung von Walrat aus Pottwalen und die Anstrengungen, diese begehrten Kerzen herzustellen. Mit dem Einzug der Elektrizität in die Haushalte verlor die Kerze an Bedeutung.

1617 empfahl der englische Militärarzt John Woodall (1570-1643) Schiffschirurgen, „Sperma ceti“ an Bord zu haben. Innerlich angewendet sei es “good against bruises inwardly“. Vom 16. Jahrhundert bis 20. Jahrhundert war Walrat in allen deutschen Arzneibüchern aufgeführt. Ende des 19. Jahrhundert gebrauchte man Walrat innerlich mit Zucker (Cetaceum saccharatum) bei Husten, Lungenerkrankungen und Durchfällen, allerdings nur noch selten. Als Bestandteil von Salben und Cremes blieb es durch die Jahrhunderte im pharmazeutischen Gebrauch. 1978 wurde Walrat aus dem Deutschen Arzneibuch gestrichen und durch künstlich hergestelltes Cetylpalmitat ersetzt. Auch in der Produktion von durchsichtigen Seifen, Pomaden, Appreturmitteln und sogar als Kautschukersatz hatte Walrat seine Spuren hinterlassen.

Anette Marquardt und Bettina Wahrig