An dieser Stelle stellen wir in regelmäßigen Abständen besonders interessante Objekte aus der pharmaziehistorischen Sammlung Braunschweig vor. Neben dem großen, von Wolfgang Schneider in den 1950er Jahren begonnenen Bestand der Forschungssammlung befinden sich heute auch Objekte aus pharmakognostischen Sammlungen sowie aus verschiedenen Apotheken des 19. und 20. Jahrhunderts im Bestand. Auf der rechten Seite finden Sie einige Objekte aus den vergangenen Monaten!
Cocain ist der Wirkstoff des Cocastrauchs (botanischer Name Erythroxylum coca), einer Pflanze, die ursprünglich in den Anden wuchs und dort von verschiedenen Völkern angebaut und auch gehandelt wurde. Überliefert sind zahlreiche Mythen und Riten zu ihrem geografischen Ursprung. Neben der rituellen Verwendung wurden die Blätter aber auch als Genussmittel sowie zu Heilzwecken eingesetzt. Im 16. und 17. Jahrhundert lernten die Europäer sie dort kennen. Sie benötigten die Indigenen zur Arbeit in den Minen. Bald war klar, dass sie im Interesse der Akzeptanz und Produktivität den Arbeitskräften eine Ration Cocablätter gewähren mussten. Wie die Indios selbst interpretierten die Europäer, die auch die Rauschwirkung kannten, die zur kleinen Kugel gekauten und mit Pflanzenasche oder Kalk alkalisierten Blätter als Stärkungsmittel.
Im 19. Jahrhundert staunten europäische Reisende, mit welch karger Nahrung ihre indigenen Bergführer auskamen und wie körperlich ausdauernd sie unter dem Einfluss von Coca waren. Cocablätter waren eine kostbare Handelsware und fanden nur schwer den Weg über den Ozean nach Europa. Schließlich erlangte der Göttinger Chemiker Friedrich Wöhler eine größere Menge dieser sagenhaften Blätter. Seinem Assistenten, dem Apotheker Albert Niemann (1834-1861), gelang es, das Reinalkaloid zu isolieren, jedoch nur wenige Gramm, so dass die Wirkung nicht gleich erforscht werden konnte. Dem Grund für den tauben Geschmack, den der Stoff auf seiner Zunge erzeugte, konnte er nicht nachgehen. Die Firma Merck begann noch im Jahr der Veröffentlichung 1862, Cocain zu produzieren, allerdings aufgrund der Knappheit nur in sehr geringen Mengen.
Einen anderen Weg als Wöhler und Niemann ging der Arzt und Reiseschriftsteller Paolo Mantegazza (1831-1910). Er gelangte auf einer ausgedehnten Südamerikareise ebenfalls in den Besitz der Blätter, kaute sie aber selbst und berichtete in einer Veröffentlichung von 1859, dass dies wahre Wunder wirke. Er fühlte sich angeblich "zu jeder Arbeit geneigt" und kaute schließlich so viel auf einmal, dass es zu Halluzinationen kam, die er in seinem Bericht wahrscheinlich noch etwas ausschmückte. Gleichzeitig empfahl er die Blätter als Mittel nicht nur zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, sondern auch als Heilmittel gegen alle möglichen Krankheiten. Der Bericht, aufgemacht als medizinisches Selbstexperiment, machte Furore und hielt das Interesse an den Blättern wach.
Mantegazza wurde so berühmt, dass er eine zweite Karriere als Politiker machte und obendrein 1871 Direktor des ersten anthropologischen Museums in Florenz wurde. Aus den Blättern produzierten Chemiker und Apotheker Weine, und von dort führte bereits ein Pfad in den Massenkonsum: Als stärkendes Mittelchen priesen Papst Leo XIII, Emile Zola und viele andere Personen des öffentlichen Lebens den "Vin Mariani", was sein Erfinder, Angelo Mariani (1838-1914), publizistisch ausnutzte.
Doch zurück zum Reinalkaloid. Aufgrund der Entstehung von Rohcocainfabriken in Südamerika und der Etablierung kolonialer Plantagen, allen voran auf Java, wurden große Mengen Coca-Blätter verfügbar, auch für die deutsche Firma Merck, und Cocain wurde zu einer industriell produzierten Reinsubstanz. Merck trat an Mediziner heran, die bereit waren, die Wirkung von Cocain weiter zu testen.
Darunter war auch der Wiener Neurophysiologe Sigmund Freud (1856-1939). In der Publikation 1884 „Über Coca“ schrieb er:
„Ich habe diese gegen Hunger, Schlaf und Ermüdung schützende und zur geistigen Arbeit stählende Wirkung der Coca etwa ein dutzendmal an mir selbst erprobt; zur physischen Arbeitsleistung hatte ich keine Gelegenheit.“
Er empfahl die therapeutische Anwendung von Cocain u. a. bei Störungen der „Magenverdauung“ (gemeint war hier auch Schwangerschaftsübelkeit), gegen Asthma und in der Morphin- und Alkoholentwöhnung. Darüber, dass hierbei Mehrfachabhängigkeiten entstanden, informierte er bald selbst.
1884 entdeckte ein Kollege Sigmund Freuds, der Wiener Augenarzt Carl Koller (1857-1944), die betäubende Wirkung von Cocain im Mund und nutzte den lokalanästhetischen Effekt in der Augenheilkunde. Die Methode der Lokalanästhesie setzte sich auch in anderen Disziplinen durch. Suchtgefahr und hohe Kosten waren ausschlaggebend für die Entwicklung von Ersatzstoffen. Georg Merling (1856-1939) entwickelte 1896 den Cocain-Ersatzstoff Eucain A und bald danach das ungiftigere, auch im Sammlungsbestand enthaltene Eucain B (ohne Abbildung). Der eigentliche Durchbruch gelang den Chemikern Alfred Einhorn (1856-1917) und Emil Uhlfelder (1871-1935) mit der Entwicklung von Procain (Handelsname Novocain, Abb. 5), das 1905 in den Handel kam und bevorzugt in der Infiltrations- und Leitungsanästhesie verwendet wurde.
Auch die Coca-Weine gingen der Welt nicht verloren. In den USA erfand ein morphinsüchtiger Apotheker eine alkoholfreie Version seines Coca-Weines: Aus John Pembertons "French Coca Wine" entstand 1887 Coca Cola.
Von Bettina Wahrig & Anette Marquardt