Künstliche Bezoare (Mai)

Objekt des Monats

An dieser Stelle stellen wir in regelmäßigen Abständen besonders interessante Objekte aus der pharmaziehistorischen Sammlung Braunschweig vor. Neben dem großen, von Wolfgang Schneider in den 1950er Jahren begonnenen Bestand der Forschungssammlung befinden sich heute auch Objekte aus pharmakognostischen Sammlungen sowie aus verschiedenen Apotheken des 19. und 20. Jahrhunderts im Bestand. Auf der rechten Seite finden Sie einige Objekte aus den vergangenen Monaten!

Es ist alles Gold, was glänzt

[Abb. 1] Bezoarziege nach Valentini, 1704

Natürliche Bezoare finden sich häufig in den Mägen von Wiederkäuern. Dabei handelt es sich um unverdaute Pflanzenfasern und Haare, die zu festen Konkrementen verfilzen. Bei längerem Verbleib im Magen bilden sich harte, glatte Krusten auf den Steinen. Medizinisch verwendete Bezoare stammten hauptsächlich von der Bezoarziege als Lieferant für „Bezoar orientalis“.  Schafkamel, Lama oder Kamelziege waren Quellen für „Bezoar occidentalis“. In Europa diente der Alpensteinbock als Lieferant für Bezoare, hier als Gemskugeln bezeichnet.

Bezoare – häufig als Bezoarstein bezeichnet - waren in fast allen Arzneibüchern und Taxen des 16. - 18. Jahrhunderts als Bestandteil kostbarer Kompositionen zu finden.  Größere Exemplare mit kunstvollen Fassungen aus Gold- oder Silberfiligran fanden den Weg in die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern.

[Abb. 2] Rezeptur Lapis de Goa, Pharmacopoeia Wirtenbergica 1741

Nach Adam Lonitzer (1528-1586) und anderen heilkundigen Autoren galten sie als die beste giftwidrige Arznei, sogar kräftiger in ihrer Wirkung als der berühmte Theriak. Als Pulver propagierte Lonitzer den Einsatz als Alexipharmakon zur Behandlung von Ohnmacht, Gelbsucht, Würmern, Gerstenkörnern, Seitenstechen, Pest, Melancholie sowie bösen und langwierigen Fiebern. Sogar einen Anti-Aging-Effekt schrieb er den Bezoaren zu: „Er behaltet die Jugend und wehret dem Alter“.

Orientalische Bezoare waren sehr teuer. Die ihnen zugeschrieben Wirkungen und der hohe Preis führten neben Verfälschungen auch zu künstlichen Nachahmungen.

Aus Goa in Indien gelangten künstliche Bezoarsteine mit der Bezeichnung „Piedra de Goa oder Lapis de Goa“ nach Europa. Mitte des 17. Jahrhunderts hatte ihn der Jesuit und Apotheker Gaspar António (Lebensdaten unbekannt) in Saint Paul in Goa kreiert. Das Monopol der Jesuiten für dieses Mittel wurde am 6. März 1691 von den Portugiesen bestätigt.

Nach der Vorschrift in der Pharmacopoeia Wirtenbergica von 1741 bestand „Lapis de Goa“ aus gepulverten orientalischen Perlen, Moschus, Ambra, roten und weißen Korallen, orientalischem Bezoar, „Edelsteinen“ (Hyazinth, Rubin, Saphir, Smaragd, Topas), Blattgold sowie Hirschhorngelatine oder Tragant als Bindemittel [Abb. 2].

[Abb. 3] Lapis bezoardicus de Goa, 18. oder 19. Jh.

In der Arzneimittelhistorischen Sammlung der TU Braunschweig befinden sich zwei Präparate mit der Bezeichnung Lapis de Goa aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert. Das Fragment eines kugelförmigen Steins [Abb. 3] wurde Wolfgang Schneider 1959 für seine Forschungen aus der Sammlung Martius in Erlangen übergeben. Der Hof- und Universitäts-Apotheker Ernst Wilhelm Martius (1756-1849) gründete 1818 die nach ihm benannte pharmakognostische Sammlung mit Rohstoffen aus dem 18. und 19. Jahrhundert.

Bei dem zweiten Präparat (ohne Abbildung) handelt es sich um ein graues Pulver aus dem Germanischen Nationalmuseum, mit deutlich sichtbaren Goldplättchen und roten und weißen Korallen. Analysen der Arbeitsgruppe von Wolfgang Schneider ergaben, dass die „Edelsteine“ in diesem Präparat fehlen.

[Abb. 4] Goastein und Goldschatulle, spätes 17.– frühes 18. Jhd., Metropolitan Art Museum

Auch Goasteine wurden in kostbaren Gefäßen aufbewahrt [Abb. 4] und waren beliebte Kunstkammerobjekte.
 

Auch ein europäisches, künstliches Bezoarprodukt mit dem Namen „Pulvis bezoardicus Sennerti“ aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts befindet sich unter den Sammlungsobjekten. Daniel Sennert (1572-1637) [Abb. 5] zählt zu den wichtigsten deutschen Medizinern des 17. Jahrhunderts. Er befasste sich hauptsächlich mit den inneren und fieberhaften Erkrankungen und lieferte eine erste Beschreibung des Scharlachs. Sennert versuchte die chemiatrischen Anschauungen von Paracelsus mit dem aus der antiken Medizin überlieferten Arzneimittelwissen von Aristoteles, Hippokrates und Galen zu verbinden. Bekannt wurde Sennert für seine Beiträge zur Entwicklung einer frühen Version der Atomtheorie.

[Abb. 5] Autorenporträt Daniel Sennert von 1627, Künstler: Merian, Matthäus (Stecher)

Das nach ihm benannte Pulver war auch in die Pharmacopoeia Wirtenbergica 1741 aufgenommen und stammt ursprünglich aus der Stadtapotheke in Schweinfurt, die eine 600jährige Bestandsgeschichte vorweisen kann. Die pharmaziehistorische Besonderheit enthielt nach der Rezeptur des genannten Arzneibuches  Hirschhorn, rote Koralle, Bezoar, Perlen, Edelsteine und Gold sowie - anders als Lapis de Goa - auch Lapis cancrorum (Konkretionen aus dem Magen des Flusskrebses), Bernstein, Terra Sigillata und  Hirschherzknochen in gepulverter Form. Auch dieses Pulver wurde durch die Arbeitsgruppe um Wolfgang Schneider untersucht. Das Analyseergebnis zeigte, dass die Substanz korrekt signiert wurde. 

Den Beinamen "Bezoardicum" erhielten übrigens auch andere Mittel, ohne den Bezoarstein zu enthalten, sondern aufgrund ihrer vermeintlich giftwidrigen Eigenschaften. Beispiele aus der Arzneimittelhistorischen Sammlung sind hierfür die schweißtreibenden Chemiatrika auf Antimonbasis: Ein Pulver aus "Bezoardicum solare Crolli" (Antimonium diaphoreticum (KSbO₃ und Sb₂O₅· H₂O) mit Goldzusatz) oder das Bezoardicum lunare (Antimon(III,V)-oxid mit Silberchlorid).

Von Anette Marquardt