Curare (August)

Curare - Pfeilgift aus der Apotheke

Abb.1: Curare aus einer niedersächsischen Apotheke, Arzneimittelhistorische Sammlung Braunschweig, Inv. Nr. 1044

Objekt des Monats: August 2024

An dieser Stelle stellen wir in regelmäßigen Abständen besonders interessante Objekte aus der pharmaziehistorischen Sammlung Braunschweig vor. Neben dem großen, von Wolfgang Schneider in den 1950er Jahren begonnenen Bestand der Forschungssammlung befinden sich heute auch Objekte aus pharmakognostischen Sammlungen sowie aus verschiedenen Apotheken des 19. und 20. Jahrhunderts im Bestand. Auf der rechten Seite finden Sie einige Objekte aus den vergangenen Monaten!

Abb.2: Von Bernard für Experimente verwendeter Frosch: Durch Unterbindung wirkt das Curare nicht im gesamten Körper.

Curare ist die Sammelbezeichnung einer Gruppe von hochgiftigen Alkaloiden, die aus Extrakten von Rinden und Blättern verschiedener südamerikanischer Lianen-Arten, vornehmlich der Gattungen Strychnos und Chondrodendron, gewonnen werden. Die Gifte werden nach der Aufbewahrungsform in Tubocurare, Topf-Curare und Calebassencurare unterschieden. Tubocurare leitet sich von der Aufbewahrung in Bambusrohren ab und enthält als Hauptkomponente Tubocurarin. Calebassencurare wird in ausgehöhlten flaschenförmigen Kürbissen aufbewahrt und gilt gegenüber dem Topf- und Tubocurare als hoch toxisch.

Von verschiedenen indigenen Völkern im Amazonasgebiet wird Curare als Pfeilgift für die Jagd verwendet, um die Beute schnell bewegungsunfähig zu machen. Das Gift führt bei Aufnahme über die Blutbahn zur Lähmung der Muskulatur, die getroffene Beute stirbt letztlich an Atemlähmung. Der Verzehr der mit dem Pfeilgift erlegten Beute ist ungefährlich, da das Gift hier über den Verdauungstrakt in den Körper gelangt. Curare blockiert kompetitiv Acetycholin-Rezeptoren und verhindert dadurch, dass sich der körpereigene Botenstoff Acetylcholin an diesen binden und ihn erregen kann, sodass es zur Lähmung der Muskulatur kommt.

Als die Existenz dieses und anderer Pfeilgifte im 17. Jahrhundert in Europa bekannt wurde, rankten sich schnell Legenden um die Substanz, deren Herstellung nur bestimmten, meist heilkundigen, Personen erlaubt war, welche das nötige Wissen geheim hielten. Dass die kleine Menge an Gift, die auf einer Pfeilspitze Platz hatte, auch große Tiere tötete, und zwar egal, wo der Pfeil traf, trug ebenso wie die Geheimhaltung dazu bei, dass rund um Curare Märchen und Schreckenserzählungen entstanden. Trotz der Geheimnisse um die Substanz, der komplizierten Herstellung und ihrer daraus resultierenden Kostbarkeit kamen Europäer ab dem 18. Jahrhundert gelegentlich in den Besitz von Proben und benutzten diese für Experimente. Bei Selbstexperimenten stellte sich heraus, dass die orale Aufnahme ungefährlich war. Anfang des 19. Jahrhunderts bewegten eine Katze und die Eselin 'Woorara' die Herzen europäischer Leser*innen: Der Mediziner Benjamin Collins Brodie (1783-1862) hatte erstmals eine curarisierte Katze durch künstliche Beatmung so lange am Leben erhalten, bis ihr Körper das Gift mit dem Urin ausgeschieden hatte. Seinem Landsmann Charles Waterton (1782-1865) gelang dies bei einer Eselin. Die Übertragung der Technik auf Menschen mit Tetanus oder Tollwut war aber vorerst erfolglos.

 

Abb.3: Curare wurde auf verschiedene Pfeile zur Jagd aufgetragen.

Im Pariser Labor des berühmten Experimentators Claude Bernard wurden Mitte des 19. Jahrhunderts Hunderte Frösche vergiftet. Da auch Bernard die Frösche am Leben erhalten konnte, bis das Curare ausgeschieden war, sprach er sogar von deren "Auferstehung". Seine Experimente etablierten, dass Curare die Nerven und Muskeln des Körpers voneinander separierte. Die Nerven arbeiteten, aber die Muskeln blieben schlaff. Bernard selbst schildert diese Erkenntnis in dramatischen Worten. „Der Organismus ist wie vom Blitz erschlagen, und alle Kennzeichen des Lebens verschwinden blitzschnell.“ Schlimmer noch, so heißt es bei ihm: Während frühere Physiologen bei ihren Tierexperimenten glaubten, die Tiere mit Curare zu narkotisieren, war jetzt klar, dass dies mitnichten der Fall war. Die Tiere spürten Schmerzen, konnten sich aber nicht mehr äußern - keine Klage, keine Abwehrreaktion war mehr möglich, so dass Bernard fragt:

"Kann man sich eine schrecklichere Pein vorstellen als die eines intelligenten Wesens, das dem fortschreitenden Entzug all seiner Organe [...] beiwohnen muß und das nun sozusagen lebend in eine Leiche eingeschlossen ist?"

Dieses Wissen hinderte Bernard aber nicht daran, seine Versuche fortzusetzen, zumal Forschungsreisende wie Alexander von Humboldt dafür gesorgt hatten, dass in europäischen Laboren nun ausreichend Substanz für systematische Versuche zur Verfügung stand. Das Gift stellte sich außerdem als in kleinen Dosen hochwirksam und sehr stabil heraus.

Abb. 4a: Topf-Curare, Rindenstücke und zwei Calebassen, aus der Curare-Sammlung von Rudolf Boehm

Alexander von Humboldt war wohl der erste Europäer, dem ein indigener Experte die komplizierte Zubereitung des Giftes demonstrierte und dabei argumentierte:

"Das Curare, dessen Herstellungsweise bei uns vom Vater auf den Sohn übergeht, ist allem überlegen, was ihr da hinten (jenseits des Meeres) verfertigt. Es ist der Saft einer Pflanze, die ganz in der Stille tötet - ohne dass man weiß, woher der Schuss gekommen ist."

Humboldt, der hier sichtlich bemüht ist, seinen Gesprächspartner als würdig und ebenbürtig darzustellen, äußert die Vermutung, dass die in den Anfängen befindliche Alkaloidforschung bald aus dem geheimnisumwehten Curare eine einzelne Substanz isolieren würde.

Allerdings dauerte es bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, bis die komplexen, aber auch sehr stabilen Moleküle in ihrer Struktur definiert werden konnten, und es handelte sich nicht um einen Stoff, sondern um viele. Als Leitmolekül diente der Forschung das d-Tubocurarin, eine quaternäre Ammoniumbase, in deren komplexe Struktur zwei Stickstoffatome mit positiver Ladung integriert sind.

Diese Struktur ermöglicht offenbar, dass sich das Molekül an der neuromuskulären Endplatte anlagert und die Überträgersubstanz Acetylcholin hemmt, so dass trotz Nervenimpuls keine Muskelkontraktion erfolgt.

 

Abb. 4b: Bambusröhre für Tubocurare, untersucht von Rudolf Boehm

Bis es gelang, die muskelrelaxierenden Eigenschaften des Curare therapeutisch auszunutzen, diente dieses als 'chemische Sonde', mit deren Hilfe die verschiedenen Wege von Giften durch den Organismus - von der Aufnahme über die Wirkungsorte bis zur Ausscheidung - verfolgt werden konnten. Tierversuche mit Curare verhalfen neben vielen anderen starken Pflanzengiften zu Erkenntnissen über die Funktion zellulärer Rezeptoren; der Begriff des Rezeptors kam kurz nach 1900 auf.

Die Idee, Curare gegen Tetanus einzusetzen, kursierte aber schon zu Brodies Zeiten und führte in den 1860er Jahren in europäischen Feldlazaretten erstmals zu bescheidenen Erfolgen. 1866 wurde die Substanz auch in der französischen Pharmakopöe aufgenommen. Für die systematische und effektive Behandlung war zu diesem Zeitpunkt nicht ausreichend Curare da, und es konnte auch nicht schnell genug an den Ort transportiert werden, wo es jeweils benötigt wurde. Der Pharmakologe Rudolf Boehm (1844-1926) besorgte sich Proben zur chemischen Untersuchung der verschiedenen Curaresorten (s. Abb. 4a und 4b). Er griff auch die Diskussionen über die klinischen Erfahrungen mit der Substanz auf und trug zu deren Bekanntwerden bei.

Warum gab es 1880 Curare in der Apotheke?

Abb.5: Curare war 1897 auch im deutschen Arzneimittelhandel präsent

Das braune Pulver in Abb. 1  kam aus einer niedersächsischen Apotheke in den Bestand der Arzneimittelhistorischen Sammlung Braunschweig.

Über die Firma Merck in Darmstadt (Abb. 5) und die Schweizer Apotheke in Berlin, aus der sich später eine Drogen-Großhandlung und Fabrik chemisch-pharmazeutischer Präparate entwickelte, konnten Apotheken Curare beziehen. Gebraucht wurde es ab 1870 zur symptomatischen Behandlung von Tetanus (Wundstarrkrampf) und musste subkutan injiziert werden.

Der Gehe-Codex listet seit 1910 das Präparat "Curaril" auf, dessen Inhalt als „Kurarelösung“ deklariert ist. 1933 wird der Hersteller des Präparats als "Byk-Guldenwerke" angegeben.

1942 wurde vom Arzt Harold R. Griffith (1894–1985) und der Ärztin G. Enid Johnson (1909–2001) erstmals ein Curare-Präparat während der Narkose am Menschen angewendet. Die Kombination der Techniken der Intubation und Allgemeinnarkose machten diesen weiteren Schritt möglich. Seither ist die Muskelrelaxation Teil der Narkosepraxis.

Erdichtetes Curare

Einen skurrilen Auftritt haben Curare-Pfeile in Jean-Pauls 1809 erschienenem satirischen Roman "Dr. Katzenbergers Badereise". Katzenberger, der sich grundsätzlich kein Schnäppchen entgehen lässt und außerdem ein passionierter Sammler naturhistorischer Kuriositäten ist, möchte einen ausgestopften achtläufigen Hasen von einem Apotheker erstehen. Katzenbergers Versuch, den Hasen mit einem gefälschten Goldtaler zu bezahlen, misslingt; auch der von ihm ebenfalls zum Tausch angebotene Curarepfeil stimmt den Verkäufer nicht um. Aus einem wirren Handgemenge, beim dem handelsübliche Apothekerware zum Wurfgeschoss umfunktioniert wird, geht Katzenberger, dessen Pfeil wieder vom Tausch- zum Wurfobjekt wird, als Sieger hervor.

Obwohl bereits im 19. Jahrhundert bekannt war, dass oral verabreichtes Curare keine Lähmung - erst recht keine tödliche - verursachte, blieb der Mythos der schnellen, tödlichen Wirkung des exotischen Gifts auch als Getränk bestehen. So lässt Ricarda Huch in "Der Fall Deruga" (1917) den Arzt Sigismondo Enea Deruga seiner geschiedenen, an einer Krebskrankheit leidenden Frau auf deren eigene Bitte das Gift in einer Limonade verabreichen und sie damit (schmerzlos) töten.

Anette Marquardt und Bettina Wahrig