"Schienenverkehrsanbindung von Mittelzentren bei wachsenden Verkehrspotentialen"; Dissertation 24.06.1994
Es ist davon auszugehen, daß auch zukünftig das Verkehrsaufkommen und die Verkehrsleistungen hohe Zuwachsraten aufweisen werden. Nach den Prognosen der aktuellen Bundesverkehrswegeplanung wird der Eisenbahnverkehr bezogen auf das Jahr 1988 bis zum Jahr 2010 im Personenbereich um rund 41 % und im Güterbereich sogar um 55 % zunehmen. Sofern zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden, die die umweitschädigenden Wir-kungen des Verkehrs reduzieren sollen, ist durch entsprechende Verkehrsverlagerungen mit einer Verdoppelung des Schienenverkehrs im Prognosezeitraum zu rechnen. Auf der Grundlage dieser wachsenden Verkehrspotentiale sind in der vorliegenden Arbeit Konzepte entwickelt worden, wie die Mittelzentren, die nach den Ballungszentren über das größte bzw. räumlich konzentrierteste und damit eisenbahnaffinste Verkehrspotential verfügen, im Schienenverkehr der Zukunft angebunden werden können.
In einer umfangreichen Analyse der Bedeutung und derzeitigen verkehrlichen Erschließung der Mittelzentren in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland wird aufgezeigt, daß in der Bedienungsqualität auf der Schiene beträchtliche Defizite bestehen. Auf der Basis von zwei unterschiedlichen Entwicklungsszenarien erfolgt eine Abschätzung des im Jahre 2010 zu erwartenden Verkehrspotentials der Mittelzentren im Personen- und Güterverkehr Es ergibt sich, daß hier schon im unteren Szenario ein bedeutendes Verkehrsaufkommen entstehen wird; Es ist somit gerechtfertigt, Anbindungskonzepte für die Mittelzentren herzuleiten, die einen qualitativen Sprung bezüglich der Bedienungsstandards bedeuten.
Die vorgestellten Konzepte ,MZ 2010' zur verbesserten Schienenverkehrsanbindung von Mittelzentren zeigen, daß bei Gewährleistung entsprechender Rahmenbedingungen die Verkehrsangebote für diese Städte deutlich attraktiver gestaltet werden können. Im Personenverkehr sollen InterRegio-Züge und RegionalSchnellBahnen mindestens im Stundentakt auf den Verbindungen zu den zugeordneten Oberzentren verkehren. Im Güterverkehr soll die Bedienungsqualität im Einzelwagenverkehr durch Ausweitung des InteCargo-Netzes verbessert werden. Die Integration aufkommensstarker Mittelzentren in den kombinierten Verkehr, dem als verkehrsträgerübergreifendes System die größte Zukunftsbedeutung zu-gewiesen wird, wird nach diesen Konzepten durch die Einführung von Linienzügen des kombinierten Verkehrs Straße/Schiene gewährleistet.
Am Beispiel des Bundeslandes Niedersachsen werden die allgemein entwickelten Bedienungsstandards in konkrete Angebotskonzepte umgesetzt. Es ergeben sich in den Szenarien allein aus diesem Regionalverkehr so hohe Streckenbelastungen, daß die Umsetzbarkeit dieser Konzepte hinterfragt werden muß.
Daher werden in einer detaillierten Analyse infrastrukturelle, sicherungs-und fahrzeugtechnische sowie betriebliche Maßnahmen zur Erhöhung der Streckenleistungsfähigkeit aufgeführt, beschrieben und in ihrer Wirkungsweise beispielhaft quantifiziert. Um die Effekte dieser Maßnahmen möglichst realitätsnah beurteilen zu können, sind am Beispiel einer synthetischen Demonstrationsstrecke verschiedene Infrastruktur- und Betriebsvarianten einander gegenübergestellt worden. Dabei wurde sowohl die grundsätzliche Machbarkeit der Sollfahrpläne als auch die zu erwartende Betriebsqualität beim Auftreten von Störungen mit dem Simulationsmodell SIMU VII berechnet. Für insgesamt 94 unterschiedliche Maßnahmenkombinationen wurden umfangreiche Mehrfachsimulationen durchgeführt. Die Ergebnisse bezüglich quantitativer und qualitativer Leistungsfähigkeit werden sowohl gesondert als auch kombiniert in zu diesem Zweck definierten,Leistungsqualitätswerten' bzw. ,Leistungsnoten' dokumentiert. Das Verfahren ist auf konkrete Strecken übertragbar.
Es zeigt sich, daß Verkehrsverlagerungen zugunsten der Schiene auch ohne Schaffung komplett neuer Infrastrukturen in einem nennenswerten Umfang möglich sind, wenn fahrzeug-, betriebsleittechnische und betriebliche Möglichkeiten konsequent genutzt werden. Die größten Kapazitätsreserven liegen dabei in der Harmonisierung der Zuggeschwindig-keiten, wobei hier das Anheben von Höchstgeschwindigkeiten und die Verbesserung des Beschleunigungsvermögens derzeit langsamer Zuggattungen im Vordergrund steht. Maßnahmenkombinationen versprechen den größten Erfolg bezüglich der Betriebsqualität.
Auf der Grundlage dieser Ergebnisse sind die Umsetzungsmöglichkeiten der Bedienungs-standards gemäß dem Konzept ,MZ 2010' am Beispiel der hochbelasteten Eisenbahn-Hauptstrecke Hannover-Hamburg untersucht worden. In einer Analyse der derzeitigen Schienenverkehrsanbindung der an dieser Strecke liegenden Mittelzentren wurden Defizite bezüglich der Schienenanbindung und bezüglich der Verknüpfung mit den Fernverkehrszügen in den Oberzentren und dem städtischen Verkehr aufgezeigt. Es sind konkrete Beförderungs- und Transportketten dokumentiert, aus denen die Schwachstellen heutiger Bedienungsformen ablesbar sind.
Schließlich wurden Fahrpläne entwickelt, die für die Mittelzentren an dieser Strecke den gewünschten Bedienungsstandard gewährleisten. Auch hier bestätigen sich die Vorteile der Geschwindigkeitsharmonisierung. Die Möglichkeiten der räumlichen Entmischung sind für den Korridor Hannover-Hamburg exemplarisch aufgezeigt worden. Darüber hinaus wurden Vorschläge entwickelt, an welchen Standorten Umschlaganlagen für die Linienzüge des kombinierten Verkehrs eingerichtet werden sollten.
Zusammenfassend ist festzustellen:
Die Schienenverkehrsanbindung von Mittelzentren kann auch an hochbelasteten Eisenbahnstrecken in einer sehr guten Bedienungsqualität erfolgen, wenn die Innovationspotentiale, über die das Rad/Schiene-System verfügt, zur gezielten Angebotsverbesserung genutzt werden. Die Eisenbahn verfügt damit durchaus noch über Kapazitätsreserven, die ange-sichts wachsender Verkehrspotentiale nutzbar gemacht werden müssen, wenn der Verkehr zukünftig umweltverträglicher gestaltet werden soll.