1995-3

Diplom- und Staatsexamensarbeiten

MÜLLER, MEIKE: Untersuchungen zur Populationsdynamik von Artemisia annua L. an der Mittelelbe. IV, 1995, 175 S. (D Geoökologie)

Veröff.: (MÜLLER, M. (1996): Populationsbiologie von Artemisia annua L. - Braunschweiger Geobotanische Arbeiten, 4: 71-83.; MÜLLER, M. & D. BRANDES: Growth and development of Artemisia annua L. on different soil types. - Mitteilungen der Gesellschaft für Ökologie, 27: 453-460.)

Zusammenfassung: Die Untersuchungen zur Populationsdynamik von Artemisia annua erfolgten sowohl unter kontrollierten Bedingungen im Gewächshaus und in Klimaschränken als auch im Freiland.
Bei den experimentellen Untersuchungen stand zunächst das Keimverhalten der Art im Vorder-grund. Es konnte gezeigt werden, daß Artemisia annua innerhalb des untersuchten Temperaturbereichs von 5 °C bis 30 °C in Petrischalen auf Filterpapier mit teilweise hohen prozentualen Anteilen keimt. Die Art stellt demnach bei der Keimung keine besonderen Ansprüche an die Temperatur und kann recht früh im Jahr in großen Mengen auflaufen. Die meisten Achänen keimen bei Temperaturen zwischen 10 °C und 20 °C, die Keimungsgeschwindigkeit ist bei 30 °C am höchsten. Im Dunkeln keimt die Art bei konstanten Temperaturen nicht, während bei Wechseltemperaturen auch im Dunkeln hohe Keimerfolge erzielt werden. Durch die Zugabe von KN03-Lösungen mit Konzentrationen zwischen 0,1 und 100 mM findet gegenüber Wasser keine deutliche Steigerung der Keimung statt. Auf den Substraten Quarzsand, Elbsand und Löß ist der Keimerfolg bei allen untersuchten Temperaturen geringer als in den Petrischalen. Das Keimverhalten zeigt zwischen den Substraten deutliche Unterschiede. Die Achänen keimen auf Löß schlechter als auf den sandigen Substraten. Aus Bodentiefen größer als 2,5 cm erreichen nur noch einzelne Individuen die Bodenoberfläche.
Wie bereits von FÖRSTER (1985) vermutet wurde, erfolgt die Blühinduktion bei Artemisia annua durch abnehmende Tageslängen. Im Klimaschrankversuch bilden alle Pflanzen bei einer Tageslänge von 14,5 h Blütenköpfchen aus, was etwa der Zeit zwischen dem 10. August und dem 18. August entspricht und gut mit den Geländebeobachtungen übereinstimmt. Werden Achänen zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr ausgesät, zeigen die Individuen deutliche Unterschiede beim Sproßlängenwachstum. Spät gekeimte Pflanzen bleiben sehr klein. Sie werden bereits kurz nach dem Auflaufen blübinduziert und beenden daher ihr Wachstum sehr rasch. Früh gekeimten Pflanzen dagegen steht bis zum Zeitpunkt der Blühinduktion ein längerer Zeitraum für das vegetative Wachstum zur Verfügung. Sie werden entsprechend größer, wachsen mit höheren Wachstumsraten und bilden eine deutlich höhere Anzahl an Blütenköpfchen aus. Der Wachstumsverlauf der Sproßlängen aller Pflanzen läßt sich gut mit der logistischen Wachstumsfunktion von VERHULST und PEARL beschreiben.
Die Untersuchungen zur Wirkung intraspezifischer Konkurrenz zeigen, daß Artemisia annua mit phänotypischer Plastizität auf steigende Individuendichten reagiert. Die begrenzte Menge an Ressourcen im Versuchsgefäß wird gleichmäßig unter den Pflanzen aufgeteilt. Entsprechend nehmen Sproßlänge, Stengeldurchmesser, Trockengewicht und Blütenköpfchenanzahl pro Individuum hyperbolisch ab. Dagegen wird pro Versuchsgefäß (d. h. pro Fläche) eine etwa konstante Diasporenmenge sowie eine konstante Biomasse (Gesetz des konstanten Ertrages) er-reicht. Auch bei hohen Dichten gelangen alle Individuen zur Samenreife. Anders ist es bei geklumpter Aussaat auf nährstoffarmem Substrat. Hier bleibt ein hoher Anteil der Individuen vegetativ. Bei diesen extrem dichten Beständen bilden sich bei den Sproßlängen rechtsschiefe Verteilungen heraus. Viele Individuen bleiben klein, wenige werden groß.
Artemisia annua kann ein besseres Nährstoffangebot zur Steigerung der Biomasse und Diasporenanzahl nutzen. Die zusätzlichen Ressourcen werden von der Art nicht in das Höhenwachstum, sondern hauptsächlich in das Seitentriebwachstum investiert. Die Steigerung der Reproduktion erfolgt durch die Erhöhung der Anzahl an Blütenköpfchen pro Pflanze und die größere Anzahl an Achänen pro Blütenköpfchen. Die Fähigkeit Nährstoffe zur Steigerung der Biomasse und der Reproduktion zu nutzen, macht Artemisia annua nicht nur an Flußufern konkurrenzfähig. Mit einer weiteren Ausbreitung in Siedlungen und möglicherweise auch auf landwirtschaftlich genutzte Flächen (sofern diese spät im Jahr geerntet werden) ist zu rechnen.
Die Untersuchungen im Freiland zeigten im Untersuchungsjahr drei große Keimungswellen. Mit sinkendem Wasserstand liefen ab Mitte Mai zahlreiche Keimlinge auf. Nach stärkeren Regenfällen im August kam es zu einer weiteren Keimungswelle. Von diesen Individuen überlebten jedoch nur wenige. Diese gelangten nicht zur Samenreife. Im Dezember wurden erneut zahlreiche Keimlinge beobachtet, die aus im selben Jahr gereiften Achänen aufliefen. Den demographischen Beobachtungen zufolge ist das Sterblichkeitsrisiko kurz nach der Keimung sehr hoch. Viele Keimlinge und Jungpflanzen sind wegen der Trockenheit eingegangen. Die Überlebenschance ist bei den früh gekeimten Individuen am größten.
Im Gegensatz zu den Gewächshausuntersuchungen zeigten die Pflanzen im Freiland keinen sigmoiden Wachstumsverlauf. Sie stellten während der Sommertrockenheit ihr Wachstum ein. Erst nach Regenfällen im August kam es zu einem weiteren Wachstumsschub. Lediglich die Pflanzen in einem verlandeten Altarm, der das ganze Jahr über ausreichend mit Wasser versorgt war, zeigten keine Beeinträchtigung des Wachstums während der Trockenheit.
Sowohl die Diasporenproduktion als auch die Sproßlänge von Artemisia annua sind stark vom Wuchsplatz an der Elbe abhängig. In den sandigen Buhnenfeldern bleiben die Pflanzen klein und tragen vergleichsweise wenig Blütenköpfchen. In den höher gelegenen Auenbereichen auf nährstoffreichem Substrat dagegen wird die Art sehr hoch und produziert beachtliche Diasporenmengen. Hier konkurriert sie erfolgreich mit anderen hochwüchsigen annuellen Arten, wie z. B. Atriplex sagittata. Möglicherweise wird letztere von Artemisia annua verdrängt.
Im Untersuchungsgebiet ist die hydrochore Ausbreitung für die Art von großer Bedeutung. Wahrscheinlich tragen Anemochorie und Zoochorie nur wenig zur Fernausbreitung bei. Die Achänen von Artemisia annua können längere Zeit auf dem Wasser schwimmen, bzw. im Wasser schweben, ohne daß die Keimfähigkeit beeinträchtigt wird. Ein Transport mit dem Wasser über größere Distanzen ist daher sicherlich möglich.
Die hohe Diasporenproduktion und das schnelle Wachstum ermöglichen eine Besiedlung ruderaler Standorte. Durch den kräftigen Wuchs und die erstaunliche laterale Ausdehnung ist Artemisia annua in der Lage, an den entsprechenden Wuchsplätzen auch mit anderen hochwüchsigen annuellen Arten zu konkurrieren. Aus diesem Grunde kann die Art als C-R-Stratege bezeichnet werden.