Unser Patenschwein

rotbuntes Husumer Schwein, Frontalaufnahme

Liebe Besucher der Webpage des Instituts für Philosophie, liebe Studierende,

darf ich mich vorstellen: ich bin ein Vertreter des „Rotbunten Husumer Schweins“ und Patenschwein der Braunschweiger Philosoph*innen. Mit meinen Artgenossen wohne ich im Tierpark Arche Warder e.V. bei Kiel, wo ich jeden Tag die Sau rauslassen darf. Gleich zu Anfang möchte ich der Ansicht von John Stuart Mill widersprechen, dass es besser sei, ein unzufriedener Mensch als ein zufriedenes Schwein zu sein. Im Original:

"It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.” (John Stuart Mill, Utilitarianism, 1863, chapter 2).

Der Philosoph hatte offensichtlich wenig Ahnung vom Schweinsein und auch Marx nicht gelesen, denn dort steht ja bekanntlich: „Das Schwein bestimmt das Bewusstsein”.

Und in eben diesem Sinne möchten die Braunschweiger Philosoph*innen etwas für eine stark bedrohte Nutztierrasse tun, die – reiner Zufall – den alternativen Namen „Dänisches Protestschwein“ trägt. Der Legende nach wurde ich in den Farben Rot-Weiß-Rot gezüchtet, weil die dänische Minderheit in Nordfriesland im 19. Jahrhundert nicht ihre rotweiße Flagge hissen durfte. Also züchtete man Schweine, die Flagge zeigten. Ich jedoch denke, ich passe mit meinen Farben wunderbar zum Logo der TU Braunschweig. Gegen den Titel „Rampensau“ habe ich nichts einzuwenden, aber ich möchte bitte nicht zur Erstsemesterbegrüßung ins Eintracht-Stadion. Der Rasen dort bekommt mir nicht.

rotbuntes Husumer Ferkel, Seitenansicht

Ausgerechnet im Protestjahr 1968 wurden meine Artgenossen als "ausgestorben" verzeichnet. In den letzten Jahren bemüht man sich um die Wiederbelebung meinesgleichen, unter anderem durch Patenschaften zur Nachzucht und weiterführend auch zum Verzehr. An Derartiges hatte Heidegger in seinem Klassiker "Schwein und Zeit" noch nicht gedacht.

Ein Schweine-Kenner war hingegen Immanuel Kant, der bereits festhielt, dass wir zu den ungehörnten Paarhufern gehören (also „zweiklauichte Thiere“ sind) und das Fett nicht im Fleisch, sondern „unter der Haut“ tragen. Auch die Techniken der gemeinen Schweinediebe waren ihm bekannt. Immer wieder gerne lese ich den Satz: „Die Eichelmast ist für das Schwein die vortheilhafteste.“ (Immanuel Kant: Schriften zur physischen Geographie). Und in seiner Kritik der Urteilskraft (§63) erläutert Kant die relative Zweckmäßigkeit der Natur mit dem Beispiel, dass „in Minorka“ (d.h. auf der Insel Menorca) sogar „das Schwein“ zum Pflügen eingesetzt werde, und nicht etwa nur der Stier.

Als Zuchtprodukt und Arbeitstier verkörpere ich die Schwerpunkte des Braunschweiger Seminars für Philosophie in vorzüglicher Weise: Technik- und Wirtschaftsphilosophie. Gehalten in einer Lebendsammlung bin ich zudem Symbol für dort laufende Forschungsprojekte. Und natürlich sind wir Schweine in der gesamten Philosophiegeschichte präsent, angefangen beim Odysseus-Mythos und den durch Kirke in Schweine verwandelten Seeleuten (laut Horkheimer/Adorno Symbol für die Unterwerfung unter die Kultur) über den treuen Schweinehirten Eumaios, der als erster den unkenntlichen Odysseus nach seiner Heimkehr in Ithaka empfängt und bewirtet, bis hin zu zahlreichen sozialphilosophischen Auslassungen über meinesgleichen. Dabei hat Platons Ansicht vom „Schweinestaat“ in der Politeia (369b-372e) zwar das Fundament dafür gelegt, dass die Menschen unsere komplexe Sozialform mit arbeitsteiliger Bedürfnisbefriedigung anerkennen könnten, aber gleichzeitig auch das Bild vom genusssüchtigen, nahezu hedonistischen Schwein gefestigt. Beim griechischen Dichter Äsop hingegen ist das Schwein das Tier der Klugheit und des rechten Maßes, also die Verkörperung von Kardinaltugenden. Ethik heißt für mich deshalb: Schwein haben.

Zum Schweinsein hingegen meinte Jean-Paul Sartre auf die Frage von Simone de Beauvoir, wen er als „Schwein“ bezeichne: „Schweine sind genau solche Leute, die ihre Freiheit darauf verwenden, sich von anderen als gut anerkennen zu lassen, während sie in Wirklichkeit schon auf Grund ihrer Aktivität schlecht sind.“ (Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre, Rowohlt 2012)

Und wer jetzt sagt, eine Schweine-Patenschaft sei eben ein Beispiel für derartige Schlechtigkeit, der kann nachlesen, dass es Sartre eigentlich um die Freiheit des Menschen ging, Gleicher unter Gleichen sein zu wollen und dass er mit „Schweinen“ sogenannte „Gegenmenschen“ bezeichnete. Warum immer wir Schweine dafür herhalten müssen, das Menschliche des Menschen bewusst zu machen, bleibt mir ein Rätsel. Schon Platons Politikos (261C-266D), in dem er den idealen Staatslenker am Beispiel des Hirten erläuterte, verwies mit jener Absicht auf das Schwein als menschenähnlichstes Tier. Dem Menschen bleibt im platonischen Beispiel nur die Zweifüßigkeit als spezifische Differenz, was natürlich ironisch gemeint ist. „Schwein oder Nicht-Schwein“, das ist nicht nur hier die Frage. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho (in: Armes Schwein, 2006, und Schweine, 2015) hat das Schwein deshalb „das liminale Tier“ genannt, das gleichsam an der Grenze zu leben scheint. Dies scheint auch Sartre getan zu haben, denn in einem Brief an Simone de Beauvoir von 1940 bezeichnet er sich selbst als „mittelmäßiges Schwein“. Nun gut.

Mir und meinen Artgenossen hingegen sind reale Grenzen der Existenz gesetzt, und darum geht es eigentlich. Wir sind nicht nur Symboltier, sondern vor allem Nutztier. Den immer gesundheitsbewusster gewordenen Menschen ohne wirkliche Hungererfahrung ist unser Fleisch nicht mager genug. Dies war vor den 1950er Jahren noch ganz anders, man erfreute sich an vielen Schweinerassen wie dem Rotbunten Husumer und dem Bentheimer Buntschwein, das ebenfalls stark gefährdet ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Filmindustrie qua Miss Piggy und Babe mit daran gearbeitet, dass man sich gezüchtete Schweine nur noch rosa vorstellt. Aber wir sind vielgestaltig und bunt. Deshalb darf ich Sie zum Schluss an ein Wort Goethes erinnern: „Unmittelbar an der Natur musste es uns verziehen seyn, den Schweinehirten für göttlich und Schweinebraten für unschätzbar zu halten.“ (Goethe, Campagne in Frankreich, Eintrag „1. Okt.“ [1792], 1822)


Verantwortlich für die Schweinerei: Nicole C. Karafyllis, im November 2018