An dieser Stelle stellen wir in regelmäßigen Abständen besonders interessante Objekte aus der pharmaziehistorischen Sammlung Braunschweig vor. Neben dem großen, von Wolfgang Schneider in den 1950er Jahren begonnenen Bestand der Forschungssammlung befinden sich heute auch Objekte aus pharmakognostischen Sammlungen sowie aus verschiedenen Apotheken des 19. und 20. Jahrhunderts im Bestand. Auf der rechten Seite finden Sie einige Objekte aus den vergangenen Monaten!
Wer heute Pflanzenschutzmittel kaufen möchte, denkt nicht an eine Apotheke, sondern an einen Fachmarkt. Die seit 1811 verpflichtend zu führenden Giftbücher in Apotheken belegen, dass auch hier Ungeziefer- und Pflanzenschutzmittel käuflich erworben werden konnten.
Unter den „Pharmazeutischen Schriften und Bilddokumenten“ der Arzneimittelhistorischen Sammlung Braunschweig befindet sich ein „Abgabebuch für giftige Pflanzenschutzmittel“ aus dem Nachlass einer niedersächsischen Kleinstadtapotheke. Auswertungen dieses Dokumentes für den Zeitraum von 1958 bis 1978 ergaben neben anderen Produkten auch 201 Abverkäufe von Parathion, das besser unter der Handelsbezeichnung E 605 bekannt ist.
Der Thiophosphorsäureester wurde ab 1948 von Bayer produziert und als „Staub“ oder, wie ein Objekt aus der Sammlung zeigt, als „E 605 forte“ Lösung in Ampullen zur Herstellung von Spritz- oder Gießmitteln im Pflanzenschutz vertrieben. Entwickelt hatte der Chemiker Gerhard Schrader (1903-1990) die Substanz im Rahmen seine Arbeiten zu Phosphorsäureestern. Die Entwicklung startete als "Spin-Off" der Forschung an Kampfgiften, aus der die gefährlichen Nervenkampfstoffe Tabun und Sarin hervorgingen.
Seit Januar 2002 ist der Handel und die Anwendung von E 605 in Europa verboten. Das E stand hier für Entwicklungsnummer und nicht für die E-Nummer eines zugelassenen Lebensmittelzusatzstoffes. Der Packungsbeilage ist zu entnehmen, dass das Spritzmittel zur Bekämpfung saugender und fressender Schädlinge, das Gießmittel gegen verschiedene Bodenschädlinge in der Landwirtschaft sowie Obst- und Gemüsebau eingesetzt werden konnte. Trotz der hohen Toxizität fand diese Substanz weltweit Verbreitung. Die Giftigkeit nach Einatmen, Verschlucken oder Aufnahme über die Haut beruht auf der Hemmung der Acetylcholinesterase. Die daraus resultierende Anreicherung von Acetylcholin im synaptischen Spalt und der Überstimulation der Acetylcholinrezeptoren führt zu Erbrechen, Durchfall, Bronchokonstriktion, Bradykardie und ggf. Kammerflimmern, Muskelschwäche und schweren Krämpfen. Der Tod tritt infolge einer Atemlähmung oder eines Lungenödems ein.
E 605 ist Symbol für die Verbreitung chemischer Stoffe in der Landwirtschaft, einschließlich der privaten Gärten. Es ist aber auch zu einem Synonym für Vergiftungen geworden. Auch wenn die weitaus größte Zahl der Vergiftungen mit E 605 Suizide oder akzidentelle Vergiftungen waren, wird die Substanz meist mit Giftmorden assoziiert.
Siehe dazu unseren Beitrag:
„Ein anderer Blick auf weibliche Kriminalität: Christa Lehmann trifft Ernst Klee“
Wer das Präparat in dieser Apotheke erwarb, sollte der Blick in das Abgabebuch zeigen. Dort waren Name und Anschrift des Käufers sowie Name, Menge des Mittels und Datum einzutragen. Die Apotheker*innen mussten sich vergewissern „das der Abnehmer die giftigen Pflanzenschutzmittel zur Bekämpfung von Pflanzenschädlingen und in zuverlässiger Weise benutzen wird. Erforderlichenfalls hat sich der Abgebende hierüber durch Befragung des Abnehmers zu vergewissern. Kann er die erforderliche Gewissheit nicht erlangen, so darf er giftige Pflanzenschutzmittel nur gegen polizeilichen Erlaubnisschein abgeben“.
Ein Ausweis war demnach nicht zwingend vorzulegen.
Die Auszählung verwertbarer Einträge lieferte die Information, dass in den Monaten Mai bis September 44 % der Abgaben an weibliche und 56 % an männliche Kunden erfolgten. Der Absatz in kleinen Mengen dokumentiert zudem die Anwendung in privaten Gärten, da landwirtschaftliche Betriebe größere Mengen benötigten. Einzelne Abgaben sind aber auch außerhalb der Gartensaison in den Monaten Januar oder November verzeichnet, was zu Spekulationen anregt.
Von Anette Marquardt