Kinderlosigkeit ist ein vieldiskutiertes Thema, aber natürlich kein historisch neues Phänomen. Während in der Gegenwart das Reproduktionsverhalten bevölkerungspolitisch gesteuert wird, um den Generationenvertrag aufrechtzuerhalten, mussten vormoderne Herrscher die Thronfolge sichern und das familiäre Erbe bewahren. Statusübergreifend konnte Unfruchtbarkeit vor allem für Frauen dramatische Folgen haben und zu sozialer Diskriminierung, Verstoßung und Scheidungsverfahren führen. Wie Kinderlosigkeit in Mittelalter und früher Neuzeit in verschiedenen Kontexten bewertet wurde, ist Forschungsgegenstand des geplanten Opus Magnum. Unterschieden wird zwischen vier historischen Diskursen, nämlich theologischen, medizinischen, juristischen und ehedidaktischen Auffassungen, sowie sieben Erzählmodellen, in denen Kinderlosigkeit literarisch verhandelt wird. Statt eine Passions- oder Diskriminierungsgeschichte unfruchtbarer Paare zu entwerfen, fragt das Werk nach den Begründungsmechanismen für die Ungleichbehandlung von Menschen mit Kindern und Menschen ohne Kinder. Neuere Ansätze der Gender- und der Intersektionalitätsforschung, insbesondere der Dis/ability Studies, werden erstmals umfassend auf die Identitätskategorie 'Fruchtbarkeit' bezogen. Kinderlosigkeit ist, so die zentrale These, keine ontologische Tatsache, sondern ein kulturelles Konstrukt. Durch die Analyse vormoderner Bewertungsmaßstäbe und Zuschreibungsverfahren erhalten die aktuellen Diskussionen um Kinderlosigkeit eine historische Basis und werden in einem neuen Licht dargestellt.
Zum Buch 'Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter' (2020).
Informationen zum Opus Magnum
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