An dieser Stelle präsentieren wir in regelmäßigen Abständen besonders interessante Objekte aus der pharmaziehistorischen Sammlung Braunschweig. Neben der großen, von Wolfgang Schneider in den 1950er Jahren begonnenen Forschungssammlung befinden sich heute auch Objekte aus pharmakognostischen Sammlungen sowie aus verschiedenen Apotheken des 19. und 20. Jahrhunderts im Bestand. Auf der rechten Seite finden Sie die Objekte der vergangenen Monate. Wenn Sie hierhin zurück navigieren, finden Sie auch die Objekte der Jahre 2024 und 2025.
Bei den hier abgebildeten Mohnköpfen handelt es sich um die getrockneten Früchte des Schlafmohns, Papaver somniferum, einer der ältesten bekannten Kulturpflanzen, für deren Nutzung es bereits in der mesopotamischen und der altägyptischen Kultur Belege gibt; auch in der griechischen und später der arabischen Medizin war der Schlafmohn präsent. Die Pflanze mit ihren magentafarbenen, roten oder weißen Blüten verbreitet sich, wenn die vielen milimetergroßen runden Samen aus den trockenen Kapseln springen, dazu reicht ein Windstoß. Im Arzneipflanzengarten der TU Braunschweig hinter dem Pharmaziezentrum sind die ästhetisch ansprechenden Blüten im Frühsommer zu bewundern.
Mohnkapseln sind in unserer arzneimittelhistorischen Sammlung mehrfach dokumentiert; es gehörte zum Ausbildungsprogramm angehender Apotheker:innen und Drogist:innen, diese zu erkennen, und sie wurden auch zu therapeutischen Zwecken verwendet, vor allem zu äußerlichen Zwecken in Form von feuchten Umschlägen, etwa im Fall schlecht heilender Wunden.
Der Grund für den historisch überlieferten breiten Anbau schon seit frühester Zeit war jedoch weder diese Anwendung noch die Möglichkeit, einzelne Pflanzenteile zu Speisen zu verarbeiten. Vielmehr kann aus den unreifen Mohnkapseln durch Einritzen ein zunächst weißer Saft gewonnen werden, der dann eingetrocknet und zu Opium weiterverarbeitet wird.
Die Technik der Opiumgewinnung hatte sich über Jahrtausende etabliert. In seinem Roman "Rotes Meer von Mohn" beschreibt Amitav Ghosh die Technik in knappen Zügen aus der Sicht von Diti, der Frau eines Opiumarbeiters, die im 19. Jahrhundert in der Nähe von Ghazipur im Osten Indiens mit ihrer Familie Opium für die naheliegende, von der British East India Company betriebene Opiumfabrik gewinnt:
"Im Licht der Morgensonne sah sie, dass einige der Blüten endlich begonnen hatten, ihre Blätter abzuwerfen. Auf dem Nachbarfeld war Chandan Singh, der jüngere Bruder ihres Mannes, bereits bei der Arbeit. Mit seinem Opiummesser ritzte er die kahlen Kapseln an; trat über Nacht genügend Saft aus, würde er morgen mit seiner Familie das ganze Feld bearbeiten. Der Zeitpunkt musste genau stimmen, denn die kostbare Milch floss nur während einer kurzen Zeitspanne im Lebenszyklus der Pflanze [...]."
Durch das Einritzen wurde ein Milchsaft gewonnen, der über Nacht austrat und am nächsten Morgen per Hand aufgefangen wurde. Eingedickt und mit den abgefallenen und leicht erhitzten Blütenblättern zu Fladen verarbeitet, wurde Rohopium von den Kleinerbauern an die von der British India Company betriebenen Fabriken abgeliefert.
Später in der Erzählung muss Diti ihren erkrankten Mann aus der Fabrik in Ghazipur abholen, wobei sie vom gigantischen Ausmaß der Fabrik und den Opiumdämpfen wie betäubt ist. Einheimische stampfen in riesigen Bottichen das Rohopium zu Brei, um es zur Weiterverarbeitung vorzubereiten; die Rauschwirkung der aufsteigenden Dämpfe ist den kränklich aussehenden Gestalten anzusehen. Ghosh fängt hier die Realität ein, welche das erste "Upscaling" der Produktion von Opiaten im Industriezeitalter für die Menschen ausmachte, die aus der schön aussehenden Pflanze das Material gewannen, mit dem hochwirksame Medikamente entstanden. Wer das Buch liest, erfährt gleichzeitig, wofür das Upscaling zunächst vor allem diente: der Überschwemmung des chinesischen Marktes mit Opium, die in den zwei Opiumkriegen und der erzwungenen Öffnung Chinas für den europäischen Markt endete und mit dem massenhaften Konsum durch die Bevölkerung [Bild Opiumrauchen] weiterging. Dieser Zeitabschnitt legte auch die Basis für die weltweite Ausweitung der Produktion und die Entstehung illegaler Handelsnetze, sowie später internationaler Abkommen zu deren Kontrolle.
Doch gehen wir zeitlich noch etwas zurück: Der Saft des Schlafmohns wurde auf die geschilderte Weise - eingetrocknet, gereinigt und verdickt - schon seit Jahrtausenden zu Opium verarbeitet. Griechische Autoren kennen die schlaffördernde Wirkung, aber auch die Wirksamkeit der Substanz gegen Diarrhöe. Es wurde zu diesen beiden Zwecken eingesetzt. Auch die Anwendung gegen Kopfschmerzen war bekannt. Über berauschende Effekte erfahren wir wenig, allerdings warnt etwa Dioskurides davor, es im Übermaß anzuwenden, was zu Lethargie führen und tödlich enden könne. Theriak war eine Latwerge, die außer Opium noch sehr viele andere Bestandteile enthielt, u.a. Vipernfleisch, und sollte gegen alle möglichen Arten von Vergiftungen helfen. Da es antidiarrhoisch wirkt, kann es durchaus gegen bestimmte Symptome einer Vergiftung oder eines akuten Infekts - die beide häufig zu Durchfällen führen - geholfen haben, allerdings nicht gegen die Vergiftung selbst. Als Genussmittel wurde es in verschiedenen Formen konsumiert, essbare Zubereitungen haben lange Zeit überwogen.
In der europäischen Medizin und Pharmazie wurden ab der frühen Neuzeit Tinkturen, also trinkbare Formen, populär, wobei weiterhin Mohnköpfe für äußerliche Anwendungen üblich waren. Opium war auch Bestandteil verschiedener Geheim- und Spezialmittel, etwa des Dowerschen Pulvers, in dem der Opiumanteil relativ gering war. Die schlafmachende und beruhigende Eigenschaft dieser Zubereitungen hat immer wieder Kindern das Leben gekostet, wenn es Eltern, um sie zu beruhigen, in der Meinung, dass die Wirkung schließlich mild sei, den Kleinen verabreichten. Säuglinge und Kleinkinder sind aber besonders empfindlich dagegen, und eine Gabe galt auch schon seit dem 18. Jahrhundert als kontraindiziert, was vielen Eltern und leider auch einigen Apothekern nicht bewusst war. Im Jahre 1776 kam es in Sachsen zu einem Gerichtsverfahren, weil ein Apotheker auf Verlangen der Amme ein Medikament namens „Kinder-Pulver“ oder „Allerlei-Lust“ abgegeben hatte. Dieses enthielt u.a. Opium und war allgemein bekannt als wirksam gegen Unruhezustände von Säuglingen. Zwei Neugeborene (Zwillinge) starben kurz nach der Verabreichung. Die Rechtsauffassungen – ob der Apotheker die Abgabe hätte verweigern müssen – waren unterschiedlich.
Das sogenannte Brown'sche System wurde kurz vor der Jahrhundertwende auch in Deutschland populär. Diesem System zufolge gab es eigentlich nur zwei Kategorien von Krankheiten, die durch Reizmangel oder Reizüberfluss zu unterscheiden waren. Wenigen der bisher bekannten Medikamente wurde Wirksamkeit zugesprochen, und unter diesen befand sich das Opium (gegen "asthenische", also Reizmangel-Krankheiten). Damit erhöhte sich die Zahl der Verordnungen von Opium erheblich. Mit der Verfügbarkeit stieg allerdings auch die Zahl der Morde, versuchten Morde und Suizide an.
Die Problematik der Opiumgewöhnung bzw. -sucht hat als einer der Ersten Albrecht von Haller angesprochen. Er berichtet selbst, dass er 1773 an einer Erkrankung der Harnwege litt, die ihm starke Schmerzen bereitete. Nach anfänglichem Zögern und auf Empfehlung seines Kollegen Sydenham entschloss er sich schließlich, Opiumtinktur einzunehmen. Sein Leiden ging mit starken Schmerzen beim Wasserlassen einher (vermutlich aufgrund eines Prostataleidens). Mit dieser Vermutung ließe sich erklären, dass Hallers Zustand – und seine Stimmung – sich vorübergehend besserten, allerdings nur vorübergehend. Er bemerkte, dass er bald nicht mehr ohne das Medikament auskommen konnte und warnte die Fachwelt in einer lateinischen Schrift.
Einem größeren Publikum wurde die Problematik bekannt, als der Schriftsteller Thomas de Quincey seine "Geständnisse eines englischen Opiumessers" veröffentlichte. In seiner Erzählung beseitigte das Opium seine anfänglichen Schmerzen und Bedrängnisse wie von Zauberhand, und er konnte wieder seiner schriftstellerischen Tätigkeit nachgehen, was aber nur kurze Zeit anhielt, da er zur Wiederherstellung des Rauschzustandes immer mehr Opium benötigte und sein Bedarf an dem Stoff durch die Entzugserscheinungen immer mehr zunahm. Charles Baudelaire übersetzte diese Schrift ins Französische und publizierte sie als Anhang zu seinen "künstlichen Paradiesen", einer ausführlichen Beschreibung von Rauschzuständen vor allem nach Haschisch-Genuss. Obwohl Baudelaire vor dem Konsum von Rauschmitteln warnt, lässt sich der Text auch als eine verdeckte Apotheose des Rausches lesen.
Morphin war das erste aus pflanzlichen Rohstoffen isolierte Alkaloid - dies gelang Friedrich Wilhelm Sertürner im Jahr 1805. Mit der Einführung der subkutanen Injektion, die der intravenösen etwas vorherging, konnte reines Morphin in den Körper gebracht werden, und es wurden sehr viel höhere Wirkstoffkonzentrationen im Blut möglich. Da Mitte des 19. Jahrhunderts gleichzeitig die Produktion von Opium stark anstieg, stand in Europa ab diesem Zeitpunkt ein sehr viel stärkeres Mittel zur Verfügung, das im Krieg, bei Verletzungen und notwendigen Operationen reichlich eingesetzt wurde. Heimkehrer aus dem Krim-Krieg oder dem Deutsch-Französischen Krieg, die dort Morphin bekommen hatten, aber auch die behandelnden Ärzte, waren in so hoher Zahl süchtig geworden, dass das Problem der Sucht in der Medizin und in der Gesellschaft erstmals deutlich problematisiert wurde. Mit Levinsteins Monographie "Die Morphiumsucht" entstand eigentlich auch erst der heute geläufige Begriff von Sucht mit der Betonung der Abhängigkeit von einem Stoff. Bis dahin wurde Sucht als Verhaltensproblem verstanden, etwa Lesesucht oder Spielsucht, d.h. sie wurde als eine Gewohnheit gesehen, die ihren Ursprung im Verhalten der Einzelnen hatte. Morphinsucht konnte aber Menschen aller Schichten, Altersgruppen und Geschlechter betreffen, musste also etwas mit dem Stoff selbst zu tun haben. Nun gerieten abhängig machende Stoffe in den Fokus.
Im späten 19. Jahrhundert wurden verschiedene Empfehlungen ausgesprochen, wie man Morphinabhängige von ihrer Sucht heilen könnte. Neben Kokain wurde auch dem Heroin, einer chemischen Variation des Morphins, die Fähigkeit zugetraut, nicht nur nicht selbst süchtig zu machen, sondern sogar als Mittel zur Morphinentwöhnung zu taugen. Diese Vermutungen erwiesen sich zwar bald als Illusionen, aber seit dem frühen 20. Jahrhundert sind immer wieder neue Abwandlungen des Morphins angepriesen worden, bei denen es gelungen sein sollte, mit den Mitteln der Chemie und der pharmazeutischen Wissenschaft die erwünschten von den unerwünschten Wirkungen zu trennen. Es kamen immer wieder neue Abwandlungen des Moleküls auf den Markt, von denen behauptet wurde, sie hätten ein sehr geringes Suchtpotenzial, was dann die Erfahrung regelmäßig widerlegte. Das letzte tragische Beispiel war das verschreibungspflichtige Opioid Oxycodon. Dieses konnte als Tablette eingenommen werden und der Wirkstoff wurde nur langsam freigesetzt. Aber weder die chemische Veränderung des Moleküls noch dessen pharmazeutische Formulierung änderten etwas an der suchterzeugenden Eigenschaft. Der massenhafte Konsum, befeuert durch gezielte Werbekampagnen, zuerst bei Fachleuten und dann im Laienpublikum, endete in einem Zustand, der in den USA heute als Opioid-Epidemie bezeichnet wird. Im Jahr 2012 wurden in den USA 255 Millionen Verschreibungen für verschreibungspflichtige Opioide ausgestellt. Nachdem das Problem bekannt wurde, sank die Zahl zwar, die Abhängigkeit verschob sich aber oft auf illegale Drogen. Drogen-Überdosis ist mittlerweile die häufigste Todesursache bei Menschen über 50 in den USA.
Kehren wir noch einmal zurück zu den Darreichungsformen: Während Opium bis zum 15. Jahrhundert vor allem in Latwergen verarbeitet wurde, wurden danach Tinkturen populär, deren Spuren in den Pharmakopöen bis ins 20. Jahrhundert nachzuverfolgen sind. Mit der Einführung der Injektionsnadel wurden subkutane, später intravenöse Injektionen zum Treiber einer neuen Art des Einsatzes, nämlich der Bekämpfung von akutem Schmerz. In unserer Sammlung findet sich die Packung von Pantopon (ohne Inhalt), zur Herstellung einer injizierbaren Lösung der Gesamtalkaloidedes Opiums. Es wurde zur Bekämpfung von schwerstem Schmerz, Koliken, Spasmen, Husten, Angst- und Spannungszuständen eingesetzt. Es enthielt die von Ballaststoffen befreiten Gesamtalkaloide des Opiums in standardisierter Form und war bis 1985 im Handel. Das Präparat stammt aus der Alten Apotheke Wolfenbüttel und ist auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zu datieren.
Aus derselben Apotheke stammt die leere Verpackung in Form einer Holzschachtel eines Opiumpflasters, Emplastrum opiatum, vom Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Form eines Pflasters war die überlieferte Form des Aufbringens von Wirkstoffen auf die Haut. Siehe dazu unser Objekt des Monats April 2023 zum Magen- un Nervenpflaster. Man könnte vermuten, dass hier ein Vorläufer eines transdermalen Trägersystems zu finden wäre, eines modernen Opiatpflasters, das heute sehr häufig in der Schmerztherapie eingesetzt wird. Allerdings ist das nicht ganz so einfach, denn in der Hochzeit der Verwendung dieser Arzneiform herrschte die Meinung vor, dass es keine oder nur eine sehr gering Aufnahme des Wirkstoffs durch die Haut gebe. Daher wurde diese Form der Anwendung als Umschläge mit eingeweichten, feuchtwarmen Mohnköpfen als lokale Therapie betrachtet. Auch die Pflaster sollten lokal wirken. Sie wurden entweder in der Magengegend zur Bekämpfung von Verdauungsstörungen oder aber am Kopf gegen Kopfschmerzen aufgebracht. Zwar dürfte diese Ansicht nicht ganz gestimmt haben, aber erst durch die modernen Zubereitungsformen der transdermalen Trägersysteme ist eine allmähliche Abgabe der Wirksubstanz und damit deren kontinuierliche Präsenz im Blut möglich.
Bei allen Gefahren, über die hier berichtet wurde, muss bemerkt werden, dass der Einsatz von Opiaten und Opioiden in der Medizin, besonders in der Krebstherapie, aber nicht nur dort, unverzichtbar ist. Gerade deshalb sind Dämonisierungen nicht geboten, wohl aber die Forderung nach einer stringenten wissenschaftlichen Begleitung der Entwicklung. Wie wir in der Gesellschaft mit der Geschichte des strategischen Einsatzes von erzeugter oder billigend in Kauf genommener Suchterzeugung bei einer ganzen Bevölkerung oder Teilen davon umgehen, ist eine offene Frage, sie kann hier nur gestellt werden.
Bettina Wahrig und Anette Marquardt