Session 3

Friday, the 10th of September, 10.45-11.45 Uhr

Jung, M.

„Negative Reziprozität“ als sozialtheoretisches Forschungsdesiderat


„Reziprozität“ hat zumeist positive Konnotationen: Nicht nur stiftet sie soziale Beziehungen zwischen Individuen und zwischen Gruppen, sondern stellt sie auch auf Dauer, denn im Unterschied zum ökonomischen Tausch ist die Bilanz niemals ausgeglichen. Allerdings hat die Dauerhaftigkeit reziproker Beziehungen eine Kehrseite in Gestalt der strukturellen (nicht empirischen) Unmöglichkeit, feindselige Beziehungen zu beenden, deren Interaktionen darauf zielen, den oder die Anderen zu schädigen oder gar zu vernichten. So wie mit einer Gabe die Pflicht zur Erwiderung gesetzt ist, verlangt eine als Unrecht empfundene Handlung eine Reaktion in Gestalt eines Rache- oder Strafaktes, der von der Gegenseite wiederum als ein Unrecht verstanden wird, das eine Sanktion erfordert. Eine so verstandene „negative Reziprozität“ ist seitens der Sozialtheorien, von Ausnahmen abgesehen, kaum beachtet worden; in der Literatur wird dieser Begriff zumeist im Sinne der sehr eingeschränkten Definition von Marshall Sahlins verwendet, der darunter Versuche versteht, „etwas umsonst und ungestraft zu bekommen“, also das einseitige Ausnutzen von Strukturen der Reziprozität, die als solche immer schon vorausgesetzt werden müssen. Das so Bezeichnete kann aber gar keine Form der Reziprozität sein, weil das Moment der Gegenseitigkeit getilgt ist und das Erbringen einer Gegenleistung gerade vermieden wird. Sahlins’ Kategorie der negativen Reziprozität verstellt daher das Phänomen eher, als dass sie es zu erschließen vermag. In dem Beitrag möchte ich erstens unterschiedliche Typen von Reziprozitätstheorien im Hinblick darauf befragen, ob und wie sich negative Reziprozität ihn ihnen abbilden lässt, zweitens ein Konzept skizzieren, das negative Reziprozität nicht als das Gegenteil von Reziprozität, sondern als eine bestimmte inhaltliche Variante derselben begreift, sowie drittens die Frage diskutieren, ob die Dynamik negativer Reziprozität in dem beschriebenen Verständnis ein Ausdruck evolutionärer Angepasstheit darstellt oder aber gleichsam eine Nebenfolge der Angepasstheit ist, welche eine „positive“ Reziprozität bedeutet. 

 

Campen, C.

Soziale Emotionen als Ergebnis evolutionärer Anpassung an das Leben des Menschen in sozialen Gemeinschaften und Gesellschaften - Eine theoretische Auseinandersetzung mit Empörung als emotionale Kommunikation von moralischen Verfehlungen

Sozialität ist eine Kerneigenschaft des Menschen, die sich in der Ausbildung von komplexen gesellschaftlichen Strukturen niederschlägt und sich damit deutlich von anderen Vertretern der Hominidae unterscheidet. Dabei spielt Moralität, Norbert Elias und Emilie Durkheim folgend, eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung funktionierender Gemeinschaft bzw. Gesellschaft. Regeln der Moral unterschieden sich dabei von anderen Regelungen innerhalb einer Gesellschaft: Sie verweisen auf Grundwerte, die nicht verhandelbar sind, sondern ein inhärenter Bestandteil der kulturellen Prägung der jeweiligen Gesellschaft darstellen. Dies hat zur Folge, dass auf amoralisches Verhalten nicht mit Wut reagiert wird, wie bei der Übertretung von anderen Regelungen, sondern mit Empörung. Der Vortrag setzt hier an und diskutiert die Entstehung der sozialen Emotion Empörung als evolutionäre Anpassung des Menschen an das Leben in gesellschaftlichen Strukturen. Grundlegend für die Betrachtung von Empörung als soziale Emotion ist die Annahme, dass Individuen Empörung verstehen und damit erkennen können. Das heißt, dass es in Interaktionen möglich sein muss Empörung als Emotion zu kommunizieren. Die Arbeiten von Paul Ekman und Kollegen dienen hier als Ausgangspunkt zur kommunikativen Wirkung von mimischen Emotionen und werden durch das Konzept der Sekundäremotionen von Robert Plutchik ergänzt, um die Emotion Empörung als evolutionäre Anpassung des Menschen auf das Leben in gesellschaftlichen Strukturen zu diskutieren. Illustriert wird dies durch erste empirische Belege die eine einheitliche mimische Darstellung von Empörung nahelegen.