Heschl, A.
Wieso es nur eine Evolutionstheorie geben kann - Darwins Theorie schließt die Erklärung von Kultur und Tradition mit ein
Mit seinem legendären Zitat „Nothing in Biology Makes Sense except in the Light of Evolution“ wollte der russisch-amerikanische Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky 1973 für jedermann verständlich darlegen, dass Darwins Evolutionstheorie die mit Abstand plausibelste Erklärung für die Vielfalt des Lebens auf der Erde darstellt. So radikal dieser Satz auch heute noch klingen mag, so war er doch nichts anderes als der Titel eines Artikels über das Verhältnis von Biologie und Religion, in welchem der Biologe zu dem versöhnlichen Schluss kommt, dass sich beide Bereiche nicht widersprechen müssen, wenn man Gott einfach als jene übergeordnete Instanz ansieht, die die Evolution als Ganzes mitsamt dem für sie notwendigen Wechselspiel von zufälliger Mutation und natürlicher Selektion in die Welt und damit in Aktion gesetzt hat. Dieser seitdem von beiden Seiten weitgehend akzeptierte Kompromiss im Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft setzte allerdings das Paradoxon in die Welt, dass eine mit menschenähnlichen Eigenschaften ausgestattete Wesenheit namens „Gott“ bereits zu einem Zeitpunkt existierte, als es noch mindestens 4 Milliarden Jahre brauchte, um die ersten realen Menschen auf evolutionärem Wege entstehen zu lassen. Die logische Lösung dieses Dilemmas besteht zunächst darin, einen bereits vor der Entstehung des Lebens auf der Erde existierenden menschenähnlichen Gott für grundsätzlich ausgeschlossen zu halten, weil ansonsten mit dieser Annahme das gesamte Theoriengebäude der modernen Biologie mit einem Schlag in sich zusammenstürzen würde. Dies ist aber noch nicht alles. Im Gegenzug muss nämlich die Biologie erklären, wieso Menschen überhaupt ein derart starkes Bedürfnis verspüren, an scheinbar nicht existente Wesenheiten wie übernatürliche Gottheiten zu glauben. Tut sie dies nämlich nicht, so findet sie sich unmittelbar in einem neuerlichen, nicht minder gravierenden Widerspruch wieder, der damit zu tun hat, dass der Mensch in den Augen der modernen Biologie durch das Wechselspiel von Mutation und Selektion entstanden ist und es somit mehr als fraglich ist, wieso er dann eine derart unangepasste, da der Realität offensichtlich völlig widersprechende Verhaltensweise wie den Glauben an übernatürliche Wesen entwickelt konnte. Hier widerlegt sich die Angepasstheit von Verhalten als zentrales Axiom der Evolutionstheorie selbst, ohne dass dies bislang den Biologen groß aufgefallen wäre. Die Lösung kann nur in einer wissenschaftlich fundierten, evolutionären Erklärung des Phänomens Religion und nicht, wie etwa vom populären Religionskritiker Richard Dawkins mit großem publikatorischen Aufwand favorisiert, in einer primär ideologisch motivierten „Widerlegung“ religiösen Denkens bestehen. Lässt sich aber einmal sogar die Entstehung religiösen Denkens evolutionär erklären, so sollte dies auch für andere typisch menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften möglich sein, die bislang als nicht mit der Evolutionstheorie vereinbar oder zumindest als von der biologischen Evolution weitgehend unabhängig gewordene Entwicklungen gelten. Dazu gehört unter anderem die Entstehung neuer Verhaltensweisen durch Lernen und deren Weitergabe an nachfolgende Generationen durch das Phänomen der kulturellen Tradition. Dass dies tatsächlich möglich ist, soll anhand einiger ausgewählter Beispiele demonstriert werden. Das dabei erzielte Ergebnis ist die Bestätigung von Dobzhanskys berühmtem Zitat, wenn auch in einer deutlich radikaleren Form als der ursprünglichen: „Nichts im menschlichen Verhalten macht Sinn außer im Lichte der biologischen Evolution.“ Oder, mit anderen Worten, es kann nur eine universal gültige Evolutionstheorie geben.
Rick, C.
Vom Affentrupp zur Ausdrucksgemeinschaft – Grundriss einer evolutionären Sozialtheorie
Seltener noch als die bloße Übersetzung einigermaßen gesicherten Wissens aus dem Umkreis der evolutionären Verhaltenswissenschaften in denjenigen der Kultur- und Sozialwissenschaften findet eine Konfrontation der verschiedenen Wissenskulturen auf der Ebene ihrer fundierenden Kerngedanken statt. Der vorgestellte Vortrag versucht sich an dieser Aufgabe durch eine phylogenetische Perspektivierung des wichtigsten Grundbegriffs sozialwissenschaftlicher Menschenforschung: der menschlichen Sozialität. Intension und Extension dieses Begriffs sind zwar Gegenstand der soziologischen Sozialtheorie, deren Fragestellung beschränkt sich jedoch allein auf eine Spezies – den Homo sapiens, häufig den Homo sapiens in industriellen Gesellschaften – und verkennt dabei, dass entscheidende Eigenschaften der gesuchten Sapienssozialität ihren phylogenetischen Ursprung nicht erst in Sapiens, sondern mindestens in Ergaster und Habilis, möglicherweise bereits in der Transition des CHLCA aus dem Dschungel- ins Waldland- und Savannenhabitat finden. Eine paläoanthropologische Spitzfindigkeit mit sozialtheoretischen Konsequenzen: Wenn nämlich der Grundstein menschlicher Sozialität auf einem wesentlich früheren als dem Sapiensstadium der homininen Ahnenreihe zu verorten ist, dann lässt sie sich nicht mehr mit den menschlichen Alleinstellungsmerkmalen der symbolischen Kultur und ausdifferenzierten Wortsprache identifizieren . Einfach deshalb, weil nach allen verfügbaren Daten vor der Evolution des Homo ergaster empirisch plausibel nicht von einer substantiellen Kultur- und Sprachfähigkeit der Homini ausgegangen werden kann. Es stellt sich folglich die Frage, wie sich hominine Sozialität vor der Entwicklung der Kultur- und Sprachfähigkeit zugetragen haben könnte und damit die Frage danach, auf welchem sozialen Fundament die spezifische, kulturalistische Sapienssozialität überhaupt erst entstehen konnte. Eine hypothetische Antwort auf diesen Fragenkomplex findet sich bei Jonathan H. Turner. Dieser argumentiert, dass die kladistisch erwartbar schwach gebundene Fission-Fusion-Sozialität des CHLCA bei der Transition ins Savannenhabitat zum selektiven Nachteil wurde und folglich ein starker Selektionsdruck zu einer enger gebundenen, strikter organisierten Sozialstruktur herrschte. Letztere musste dabei durch einen Organismus hervorgebracht werden, dessen evolutionär prädisponiertes, soziales Ethogramm sich aller kladistischen Wahrscheinlichkeit nach in wenigen und tendenziell schwachen Bindungen und einem stark ausgeprägten ‚Individualismus‘ äußerte. Turners neurobiologisch rückgebunde These ist vor diesem Hintergund, dass der evolutive Prozess an dieser Stelle nicht allein den soziobiologisch primär erwartbaren Weg über eine Verfestigung der Sippenbande und Forcierung der männlichen Dominanzhierarchien gegangen sei, sondern auch und vor allem über die Ausdifferenzierung des emotionalen Erlebens und des emotionalen Ausdrucks, zur Etablierung einer elaborierten Form der Kommunikation und erfolgreichen Koordination der schwach gebundenen Hominverbände. Leider lässt Turner seine Leser über das konkrete Wirkungsgefüge dieser „Language of Emotions“ im Unklaren und genau an dieser Stelle setzt die intellektuelle Eigenleistung des vorliegenden Beitrages ein: Anhand (human-)ethologischer und psychologischer Erkenntnisse über emotionalen Ausdruck, Empathie, Perspektivübernahme und Reziprokation sowie die soziologische Theorie der Interaktionsritualketten, wird das Wirkungsgefüge einer Sozialität beschrieben, deren primäres Organisations- und Bindungsmedium der mimisch und gestisch vermittelte, emotionale Ausdruck bildet. Diese Ausdrucksgemeinschaft stellt sich dann als die erste Stufe der homininen Sozialevolution nach der Fission-Fusion-Menschenaffensozialität und vor der symbolisch und sprachlich gebundenen Sapienssozialität dar. Sie erscheint damit nicht nur als die phylogenetisch primordiale Sozialform, sondern auch als die tragende Säule rezenter Sapiensinteraktionen und fordert folglich eine Umorientierung des sozialtheoretischen Fokus von Sprache und sprachlich vermittelten Symbolen hin zu leiblichem Ausdruck und emotionalem Erleben.