Agnes Pockels hatte nie studiert, dennoch wurde die Forschung der Autodidaktin international anerkannt. Im Jahr 1932 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Braunschweig.
Ein ausführlicheres Porträit über Agnes Pockels finden Sie hier.
Fettiges Abwaschwasser ist für viele ein Übel bei der täglichen Hausarbeit. Die Hausfrau und Chemikerin Agnes Pockels regte es zu wissenschaftlichen Experimenten an. Sie entwickelte eine Versuchapparatur zur Messung von Oberflächenspannungen und schuf damit die Grundlage für die Aufklärung vieler Grenzflächenphänomene.
"... direkt veröffentlichen konnte ich sie (die wissenschaftlichen Ergebnisse) nicht, teils weil die hiesigen Zeitschriften wohl von einer Dame nichts angenommen haben würden, teils weil ich nicht genügend von den Arbeiten Anderer über denselben Gegenstand unterrichtet war", schrieb Agnes Pockels in einem Brief an den britischen Physiker und späteren Nobelpreisträger John William Strutt, bekannt als Lord Rayleigh. Die Aussage zeigt, wie zurückhaltend sie ihre Forschung am heimischen Küchentisch beurteilte, die die Grundlage für das heutige Wissen über Grenzflächenphänmomene bilden.
Agnes Pockels wird am 14. Februar 1862 in Venedig als Tochter des Berufoffiziers der Österreichischen Armee Theodor Pockels und seiner Frau Alwine geboren. In Norditalien ist zu dieser Zeit Malaria verbreitet - und auch die Pockels bleiben von der Krankheit nicht verschont. Nach der Frühpensionierung des Vaters zieht die Familie nach Braunschweig, wo Agnes Pockels die städtische höhere Mädchenschule besucht. Sie interessiert sich früh für Physik und dikutiert oft mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Friedrich darüber. Er wird später Physikprofessor und verschafft ihr Zugang zu Fachliteratur. Auch Agnes Pockels hätte gerne Physik studiert, doch waren Frauen zum Studium nicht zugelassen. Als sie dann studieren dürfen, verzichtet sie auf Wunsch ihres Vaters darauf. Zeitlebens übernimmt sie Haushaltsführung und Krankenpflege im Hause Pockels.
"... was Millionen von Frauen täglich mit Unlust sehen und beschäftigt sind, hinwegzuputzen - das fettige Abwaschwasser - das regte diese Eine zu Beobachtungen und schließlich zur wissenschaftlichen Bearbeitung einiger Fragen an", schreibt ihre Schwägerin Elisabeth Pockels. Die Forscherin befasst sich mit Fragen der Oberflächenspannung und Benetzungsphänomenen. Sie entwickelt aus einfachen Gegenständen eine Messapparatur, die sie "Schieberinne" nennt. Lapidar bemerkt sie in ihrem Tagebuch: "1880 oder 81: Habe das anomale Verhalten der Wasseroberfläche entdeckt. 1882: Habe Schieberinne (Trog) erfunden. 1883: Habe große Schieberinne anfertigen lassen." Irving Langmuir entwickelt Pockels' "Schieberinne" weiter zur Langmuirschen Waage, die noch heute zur quantitativen Untersuchung von Oberflächenfilmen benutzt wird. Für seine Arbeiten erhielt er 1932 den Nobelpreis. Charles Giles und Stanley Forester schreiben dazu: "When Langmuir received den Nobel Prize for Chemistry in 1932 for his work in investigating monolayers on solids and on liquids, part of his achievement was thus founded on original experiments first made with a button and a thin tray, by a young lady of 18 who had had no formal scientific training."
Über zehn Jahr hinweg führte Pockels akribisch Messreihen durch, und das ohne Anregung und Austausch mit anderen Wissenschaftlern. 1890 liest sie einen Artikel von Lord Rayleigh, der ebenfalls über Oberflächenphänomene arbeitet. Daraufhin schreibt sie ihm einen zwölfseitigen Brief, in dem sie ihre Ergebnisse mitteilt und zur weiteren Verwendung freigibt: "Übrigens überlasse ich es ganz und gar Ihnen, über meine kleine Arbeit zu verfügen und von meinen Mitteilungen beliebigen Gebrauch zu machen ..." Rayleigh erkennt den Wert der Arbeit und setzt sich postwendend dafür ein, den Brief in "Nature" zu veröffentlichen. Zwei Monate später wird die Ãbersetzung von Pockels' Brief zusammen mit Rayleighs Anschreiben an den Herausgeber abgedruckt. Darin schreibt er: "I shall be obliged if you can find space for the accompanying translation of interesting letter which I have received from a German lady, who with very homely appliances has arrived at valuable results respecting the behaviour of contaminated water surface."
Nachbau einer Schieberinne von Agnes Pockels
Die Veröffentlichung ihrer Arbeiten regt sie zu weiterer wissenschaftlicher Tätigkeit an. Sie untersucht mit der ihr eigenen Genauigkeit Oberflächenkräfte monomolekularer Filme, Adhäsion verschiedener Flüssigkeiten an Glas und Grenzflächenspannungen von Emulsionen und Lösungen. Ihre Ergebnisse veröffentlicht sie u.a. in Nature, der Naturwissenschaftlichen Rundschau und den Annalen der Physik. Infolge dessen wird sie auch von deutschen Physikern anerkannt und eingeladen, wissenschaftliche Vorträge zu halten. Neben ihren Arbeiten zu Oberflächenphänomenen widmet sie sich weiteren Fragen. So veröffentlicht sie 1902 eine Übersetzung von Georg Howard Darwin "The Tides and Kindred Phenomena in the Solar System" und 1909 eine philosophische Abhandlung in den Annalen der Naturphilosophie.
Anfang des 20. Jahrhunderts benötigen ihre kranken Eltern zunehmen Pflege, so dass sie die Möglichkeit, im Physikalischen Institut der Technischen Hochschule Braunschweig zu arbeiten, nicht wahrnehmen kann. 1906 stirbt ihr Vater, 1913 ihr Bruder und ein Jahr danach auch ihre Mutter. Erst während des Ersten Weltkrieges verliert sie den Kontakt zur wissenschaftlichen Welt und stellt ihre Experimente ein. Über all die Jahre ging die außergewöhnliche Wissenschaftlerin trotz familiärer Verpflichtungen und gesellschaftlicher Zwänge ihren Interessen konsequent nach.
Öffentliche Anerkennung wird Agnes Pockels erst im Alter von 70 Jahren zuteil. 1931 wird ihr der Laura-R.-Leonard-Preis der Kolloid-Gesellschaft zugesprochen, der ihr gemeinsam mit der "Würde eines Doktor-Ingenieurs ehrenhalber" der Technischen Hochschule Braunschweig im Februar 1932 verliehen wird. Agnes Pockels stirbt am 21. November 1935 in Braunschweig.
Die Technische Universität Braunschweig (TU) verleiht seit 1993 die Agnes-Pockels-Medaille. Mit dem Wissenschaftspreis werden Personen ausgezeichnet,die sich um Aufbau und Entwicklung der TU Braunschweig, um Förderung von Forschung und Lehre, insbesondere von Frauen, verdient gemacht haben.
Preisträgerin 2003: Prof. Dr. Ingeborg Wender, Institut für Pädagogische Psychologie der TU Braunschweig.
Den Artikel verfassten Andrea Kruse und Sonja M. Schwarzl. Originaltitel: "Zum Beispiel Agnes Pockels", in: Nachrichten aus der Chemie, 06, 2002. - Die Wiedergabe an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen.