Nur die wenigsten Sozialwissenschaftler:innen werden, ihrem historischen Kontext entwachsen, als Klassiker:in kanonisiert oder auch nur am Rande für ihre wissenschaftliche Arbeit in den modernen Institutionen und Organisationen des Faches erinnert. Dabei erlangen diejenigen, deren Werk und Wirken lebendig bleibt, einen großen Einfluss nicht zuletzt auch auf die soziologische Gegenwart.
Aus diesem Grund sind theoretische und empirische Fragen, wie solche nach den Selektionsentscheidungen über bzw. die Auswahlprozesse von Werken und Personen, insbesondere auch in Bezug auf die Kriterien für die produktiven Prozesse des Erinnerns und Vergessens, sowie nach den sich ergebenden Konsequenzen von großer Bedeutung. Inwiefern bestimmen historische und gegenwärtige macht- und herrschaftssoziale Strukturen diese Prozesse, inwiefern gestalten und begrenzen sie das Wissen einer Wissenschaft? Wie begründen Sozialwissenschaftler:innen ihre Auswahl-Kriterien für zu bewahrende Wissensbestände und wie werden diese theoretisch fundiert? Könnte es überhaupt ‚neutrale‘ Kriterien geben und wie würde man zu diesen kommen können? Kann der ‚neutrale wissenschaftliche Diskurs‘ möglicherweise selbst Teil von Verdrängungsmechanismen sein und Diskriminierungen bzw. Marginalisierungen begünstigen? Und wie stellt sich all dies in der gegenwärtigen Arbeit von Soziolog:innen dar, wie wird diese Arbeit und wie werden die gegenwärtigen Institutionen und Organisationen davon beeinflusst? Diesen Fragen wollen wir uns am Beispiel von Frauen in der Soziologiegeschichte in einer intersektionalen Perspektive nähern.
Ziel dieser Sektionstagung soll es sein, sich am Beispiel von Frauen in den Sozialwissenschaften und anhand ihrer individuellen wie auch kollektiven wissenschaftlichen Bildungs-, Arbeits-, Erwerbs- und Werks-Biografien aus der (vergessenen) sozialwissenschaftlichen Fachgeschichte mit den genannten Problemstellungen zu beschäftigen. Es geht uns darum, Leistungen und Verdienste von Wissenschaftlerinnen (wieder) ans Licht zu bringen sowie die theoretische und empirische Frage nach ihrer Relevanz und Aktualität zu stellen. Wir wollen fragen, ob es Werke, Ansätze und Perspektiven gibt, die – aus welchen Gründen auch immer – in Vergessenheit geraten sind, deren Re-Lektüre aber essenziell für das heutige Fach ist, und diese inhaltlich diskutieren, uns also diesen vergessenen Inhalten bewusst noch einmal in einer kritischen Reflexion aus heutiger Perspektive widmen. Dazu gehört die analytische Frage nach den Praktiken, Institutionen, Denkmustern, Wissens- und Machtfeldern, die das (bisherige) Vergessen verursacht bzw. begründet haben, wie auch die methodologische Frage nach Forschungsstrategien, um vergessene Wissensbestände in der Historie ‚wieder-finden‘ und aus ihr ‚bergen‘ zu können.