Im Sinne diskriminierungskritischer Diversity1 basiert der Fokus 2022 auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Bildungsungleichheit in Deutschland, Klassismus als Diskriminierungskategorie aus einer intersektionalen Perspektive sowie Hürden, denen First Generation Students an der Universität begegnen. Diese werden hier dargestellt.
Wir betrachten und analysieren soziale Ungleichheit auf einer strukturellen Ebene, um bestehende Barrieren und Ungleichheitsstrukturen aktiv abzubauen und damit Chancengleichheit zu fördern. Dabei treffen nicht alle Erkenntnisse auf jede Person zu, sie decken gesellschaftliche Ungleichheiten auf und helfen uns, die Studienbedingungen von First Generation Students langfristig zu verbessern.
In Fußnoten sind Quellen und weiterführende Informationen zu finden.
1 Mehr zur Perspektive diskriminierungskritischer Diversity ist zu finden bei Czollek et al. 2019, S. 30
Es gibt verschiedene Begriffe, mit denen Studierende aus nicht-akademischen Haushalten beschrieben werden wie zum Beispiel First Generation Students, Erstakademiker*innen oder Arbeiterkinder. Die Gruppe von First Generation Students kann unterschiedlich weit gefasst werden: Personen von denen ein oder zwei Elternteile einen Hochschulabschluss haben, seltener werden auch bspw. Meisterabschlüsse einbezogen. In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion ist die Unterscheidung zwischen Kindern aus nicht-akademischen Haushalten mit Eltern ohne Hochschulabschluss und Kindern aus akademischen Haushalten, bei denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss hat, etabliert1.
Im Durchschnitt studiert in Deutschland etwa die Hälfte aller Studierenden als Erste in ihrer Familie.
Die auch im europäischen Vergleich hohe Bildungsungleichheit in Deutschland ist seit langem Gegenstand gesellschaftlicher sowie wissenschaftlicher Debatten und konnte seit der PISA-Studie 2001 nicht verringert werden1. Um den Einfluss sozialer Herkunft auf die Bildung abzubilden, werden drei Ebenen angeführt:
Bildungstrichter: soziale Selektion nach Stufen des Bildungssystems
Übergang von der gymnasialen Oberstufe an eine Hochschule
Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung im Vergleich zur Gruppe der Studienanfänger*innen
Bildungstrichter
Der Bildungstrichter (Abbildung 1) stellt dar, wie viele von 100 Kindern aus nicht-akademischen bzw. akademischen Haushalten die nächste Bildungsstufe von der Grundschule bis zur Promotion erreichen. Von 100 Kindern aus akademischen Haushalten beginnen 79 ein Studium, bei Kindern aus nicht-akademischen Haushalten sind es 27 Studienanfänger*innen. Zudem ist zwischen zwei Stufen jeweils die Übergangsquote zu sehen: 82 Prozent derjenigen, die ein Studium beginnen und damit noch 64 von 100 Kindern aus akademischen Haushalten erwerben den Bachelorabschluss, die Übergangsquote bei First Generation Students liegt bei 76 Prozent und damit 20 Bachelorabsolvent*innen. Die Promotion schließen 6 von 100 Kindern aus akademischen vs. 2 von 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten ab.
1 Kracke et al. 2016, S. 2
Der Bildungstrichter zeigt bereits zwischen Grundschule und Aufnahme eines Studiums einen erheblichen Unterschied zwischen Personen aus akademischen und nicht-akademischen Haushalten. Die Ungleichheit bleibt an der Hochschule bestehen bzw. verstärkt sich weiter: Studierende aus akademischen Haushalten brechen ihr Studium häufiger ab und nehmen seltener ein Masterstudium auf.
Übergang Schule – Uni
In Abbildung 2 ist die Übergangsquote vom Besuch einer gymnasialen Oberstufe an eine Hochschule nach Bildungsabschluss der Eltern dargestellt. Von 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten, die eine gymnasiale Oberstufe1 besuchen, beginnen 47 Prozent ein Studium, bei Kindern aus akademischen Haushalten sind es 87 Prozent.
1 Zur gymnasialen Oberstufe zählen hier Allgemeinbildende Gymnasien, Gesamtschulen, Fachgymnasien (Kracke et al. 2016, S. 4)
Anteil der Kinder aus (nicht-) akademischen Haushalten: Gesamtbevölkerung und Studienanfänger*innen
In Abbildung 3 wird die Gesamtbevölkerung im Vergleich zur Gruppe der Studienanfänger*innen in Deutschland im Jahr 2016 dargestellt. Die im Bildungstrichter und Übergang Schule - Uni zu sehende Bildungsungleichheit führt zu einer deutlichen Unterrepräsentanz von Erstakademiker*innen: Während 72 Prozent aller Kinder in nicht-akademischen Haushalten aufgewachsen sind, liegt der Anteil der First Generation Students bei 47 Prozent.
Covid 19
Die Auswirkungen der Pandemie werden sich erst in den nächsten Jahren vollständig zeigen, es ist jedoch davon auszugehen, dass die Pandemie die Bildungsungleichheit in Deutschland verstärkt. Im Diskussionspapier 2021 “Chancengerechte Bildung. Vom Arbeiterkind zum Doktor” heißt es:
“Die COVID-19-Pandemie droht die kleinen Erfolge der vergangenen Jahre wieder rückgängig zu machen. Nichtakademikerkinder sind stärker von unzureichender digitaler Infrastruktur, reduzierten Lernzeiten und zunehmenden Finanzierungsschwierigkeiten betroffen."1
Die fehlende Interaktion mit anderen Studierenden und Lehrenden sowie finanzielle Unsicherheit sind für Erstakademiker*innen besonders herausfordernd.
Die Erfahrungen von Studierenden an einer Universität sind nicht einheitlich und Erstakademiker*innen stehen unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber. Durch Studien zur Lage von Studierenden aus nicht-akademischen Haushalten erfahren wir etwas über die Studienbedingungen von First Generation Students. Die Ergebnisse treffen nicht gleichermaßen auf jede Person zu, sie decken Ungleichheiten auf struktureller Ebene auf.
Hannah Rindler, Bundeslandkoordinatorin von ArbeiterKind.de beschreibt in einem Interview mit der FU Berlin verschiedene Hürden für Erstakademiker*innen wie z.B. fehlende akademische Vorbilder (familiär/universitär), finanzielle Ressourcen, den akademischen Habitus oder die Distanz zu Lehrenden. Das Video ist in der Toolbox Gender und Diversity in der Lehre der FU Berlin zu finden.
Im Impuls „Arbeiterkinder an der Uni: Hürdenlauf zum Akademiker“ der Hans Böckler Stiftung werden die Ergebnisse einer Studie zum Einfluss der sozialen Herkunft das Hochschulstudium1 wie folgt beschrieben: „Arbeiterkinder bringen im Studium ebenso gute Leistungen wie ihre Kommilitonen. Dabei haben sie es aber deutlich schwerer. Sie bekommen weniger Unterstützung von Zuhause, müssen häufiger Geld verdienen und werden auch von den Professoren seltener gefördert“2
Einige der Ergebnisse zu Hürden für Erstakademiker*innen3 werden hier zusammengefasst:
Studierende aus nicht-akademischen Haushalten nehmen die Aufnahme ihres Studiums häufig als Wagnis statt als Selbstverständlichkeit wahr, sie erfahren aufgrund fehlender Erfahrung oder Verständnis weniger Unterstützung aus ihrem Elternhaus als Kinder von Akademiker*innen.
First Generation Students können sich deutlich seltener auf finanzielle Unterstützung ihrer Eltern verlassen. Das BAföG gleicht diese Ungleichheit nur bedingt aus, für Studierende aus nicht-akademischen Haushalten ist die Vereinbarkeit von Studium und Beruf eine Herausforderung. Gleichzeitig werden Erstakademiker*innen seltener durch Stipendien gefördert.
Aufgrund einer höheren Unsicherheit im universitären Umfeld können First Generation Students zurückhaltender in Diskussionen sein und die ebenso guten Leistungen wie die von Studierenden aus akademischen Haushalten fallen weniger auf.
Soziale Ungleichheit wirkt sich weiterhin auf karriererelevante Schritte während des Studiums aus, so arbeiten Erstakademiker*innen beispielsweise seltener als studentische Hilfskräfte4 und nehmen weniger häufig ein Auslandstudium auf5.
Fokus 2022: First Generation Students an der TU Braunschweig
Der Fokus 2022: First Generation Students an der TU Braunschweig hat das Ziel, mehr Wissen über die Studienbedingungen von Erstakademiker*innen zu erlangen, diese langfristig zu verbessern und damit die Chancengleichheit zu fördern.
Zielgruppenspezifische sowie bedarfsorientierte Angebote erhöhen die Attraktivität der Hochschule für Studienanfänger*innen der ersten Generation und können Studienabbrüche vermeiden. Dazu gibt es verschiedene Projekte und Maßnahmen, die im Laufe des Jahres weiterentwickelt und ergänzt werden. Hier werden einige Beispiele angeführt:
Erhöhung der Sichtbarkeit von First Genereration Students und -Akademiker*innen als universitäre Vorbilder (u.a. Role Models)
verschiedene Unterstützungs- und Vernetzungsangebote wie das Diversity Mentoring, Studierendennetzwerk FirstGen@TU oder peer-to-peer Projekt für Studienanfänger*innen der ersten Generation
Veranstaltungen vermitteln Wissen über und sensibilisieren für die Studienbedingungen von Erstakademiker*innen
„Als Erste*r studieren an der TU Braunschweig“ bietet Informationen zu verschiedenen Themen, die für First Generation Students hilfreich sein können
Der Fokus 2022 ist ressourcenorientiert: First Generation Students stehen strukturellen Barrieren gegenüber und ihre Bildungsbiografie bringt eine Vielzahl an Kompetenzen mit sich. Diese werden zum Beispiel beim Workshop "Stärken meiner Bildungsbiografie" von ArbeiterKind.de thematisiert.
Um den vielfältigen Themen zu begegenen, arbeitet die Koordinierungsstelle Diversity mit externen Kooperationspartnern und verschiedenen Einrichtungen der TU Braunschweig zusammen. Unter "Veranstaltungen und Workshops" sind diverse Angebote wie bspw. eine Informationsveranstaltung des International House für Erstakademiker*innen zum Thema "Studieren in Europa" oder von GradTUBS zum "Promovieren als First Generation Student" zu finden.
Wenn Sie Erstakademiker*innen im Rahmen des Fokus 2022 unterstützen möchten oder bereits eine konkrete Idee haben, melden Sie sich unter diversity(at)tu-braunschweig.de Die Koordinierungsstelle Diversity begleitet Sie gerne bei der Entwicklung von Projekten oder Veranstaltungen und deren Umsetzung, bspw. durch die Vernetzung mit möglichen Kooperationspartner*innen.