Die Offshore-Windenergie gilt als wichtiger Baustein für das Gelingen der Energiewende. Bis 2045 soll der auf dem Meer in Deutschland erzeugte Strom verachtfacht werden. Allerdings sind diese Anlagen auch mit besonderen Herausforderungen konfrontiert – zum Beispiel der starken Belastung durch Wind und Wellen, Korrosion oder auch der Besiedlung durch marinen Bewuchs. Wie Muscheln, Algen und weitere Meeresbewohner die Tragfähigkeit von Offshore-Windenergieanlagen und anderen maritimen Bauwerken beeinflussen, wollen Wissenschaftler*innen der Technischen Universität Braunschweig herausfinden. Dazu wurde am 29. April 2024 am Leichtweiß-Institut für Wasserbau im Beisein des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil eine neue salzwassertaugliche Großforschungsanlage in Betrieb genommen, die in ihrer Art europaweit einmalig ist. Ziel ist es, die Konstruktion von Offshore-Windenergieanlagen zu verbessern, den hohen Unterhaltungsaufwand zu reduzieren und die Laufzeit maritimer Anlagen zu verlängern.
Oberflächen unter Meerwasser werden schnell von marinen Organismen besiedelt. So bilden sich auch an den Tragstrukturen und Pfählen von Offshore-Windenergieanlagen kleine Riffe u.a. mit Muscheln, Seesternen, Seepocken und Seeanemonen. Was für die Meeresbewohner zum neuen Zuhause wird, beeinflusst jedoch die Belastung der Strukturen durch Meereswellen und Tideströmung. In den üblichen Auslegungsberechnungen der Windenergieanlagen wird zwar berücksichtigt, dass sich die Geometrie der Unterwasserstrukturen durch den Bewuchs verändert, die Auswirkungen auf die einwirkenden Lasten wurden jedoch bislang mangels genauer Daten nur durch konservative Abschätzungen modelliert.
Stärkung des Forschungsstandorts im Bereich Küsteningenieurwesen und Seebau
Im neuen Salzwasser-Wellen-Strömungskanal des Leichtweiß-Instituts für Wasserbau (LWI) der TU Braunschweig, der Teil des vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) geförderten Projekts „EnviSim4Mare“ ist, sind jetzt erstmals Messungen unter realen Umweltbedingungen möglich. Neben dem Großen Wellenströmungskanal (GWK+) des Forschungszentrums Küste von TU Braunschweig und Leibniz Universität Hannover kommt nun eine weitere, europaweit einzigartige Forschungsanlage hinzu, die das Alleinstellungsmerkmal des Forschungsstandorts Braunschweig-Hannover im Bereich Küsteningenieurwesen, Seebau und maritimen Technologien noch einmal entscheidend stärkt und das ohnehin schon sehr umfangreiche Portfolio an klein- und großskaligen Experimentaleinrichtungen erweitert.
„Wir können hier die gesamte marine Umwelt modellieren und erhalten durch den Einsatz spezieller Messtechnik einen genauen Einblick in die Prozesse, die im Umfeld der mit marinem Bewuchs besetzten Strukturen im Meer ablaufen“, freut sich Professor Nils Goseberg, geschäftsführender Leiter des LWI. „Wir können sowohl die Temperatur als auch den pH-Wert, den Salzgehalt und den Sauerstoffgehalt in der Anlage einstellen. So haben wir die Möglichkeit, lebende Meeresbewohner einzubeziehen und die Wechselwirkung der Offshore-Windenergieanlage mit ihrer Umgebung zu modellieren.“
Aus Braunschweiger Wasser wird Meerwasser
Wie der Name schon sagt, werden in dem 30 Meter langen und drei Meter breiten Kanal Salzwasser, Wellen und Strömung kombiniert. Bis zu 80 Zentimeter hohe Wellen können die beiden eingebauten Wellenmaschinen erzeugen. Zusätzlich sorgen vier Pumpen für die Strömung. Darüber hinaus ist die Anlage auch mit einer Wasseraufbereitung ausgestattet. Um den Verbrauch von Frischwasser zu reduzieren und die geforderten Wasserbedingungen zu regulieren, wird das Wasser aufbereitet und in einem geschlossenen Kreislauf wiederverwendet. Aus normalem Braunschweiger Wasser wird Meerwasser, indem das LWI-Team Meersalzsole in die Wasseraufbereitungsanlage einleitet. „So können wir optimale Meeresbedingungen – ähnlich wie in der Nord- und Ostsee – für die Muscheln bieten“, erklärt Dr. David Schürenkamp, Oberingenieur der Abteilung Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau im LWI.
Dafür ist auch das dreistufige Filterungssystem mit Sandfilter, Abschäumer inklusive Ozonbehandlung und biologischem Rieselfilter notwendig. Bis zu 350 Kubikmeter, also 350.000 Liter, Salzwasser pro Stunde kann die Wasserbehandlungsanlage reinigen. Für die Meeresbewohner – Miesmuscheln, Seepocken und Algen, die zuvor an Offshore-Standorten rund um Helgoland und im Windpark Nordergründe in der Nordsee Versuchskörper bewachsen haben – ist ein extra Hälterungsbecken vorgesehen. Hier sollen sie sich an die Bedingungen im Salzwasser-Wellen-Strömungskanal langsam gewöhnen.
Blick durchs Unterwasserfenster
Schon bald werden die Wissenschaftler*innen die ersten Experimente starten. Beobachten und dokumentieren können sie diese von der Steuerkanzel aus mit verschiedenen Kameras in der Anlage und durch ein großes Unterwasserfenster, durch das die Forschenden wie in einem Aquarium in den Kanal schauen können.
Vom Kanal selbst ist in der Versuchshalle nicht viel zu sehen. Er hat eine Einhausung erhalten, die für die Experimente mit Schiebeelementen verschlossen werden kann. „Damit haben wir ideale Bedingungen“, so Professor Goseberg. „Die richtige Luftfeuchtigkeit, die Temperatur bleibt in der Luft bzw. im Wasser erhalten und wir können so energieeffizient und nachhaltig forschen.“
Nach den Untersuchungen im Projekt „EnviSim4Mare“ sind weitere Forschungsvorhaben geplant. „Durch die zunehmende Nutzung mariner Flächen werden Forschungsaktivitäten zur Funktionalität und Optimierung von maritimen Technologien zunehmen während gleichzeitig die Notwendigkeit von Technikfolgenabschätzungen an der Schnittstelle mit der marinen Umwelt an Relevanz gewinnen wird“, sagt Professor Goseberg. Mögliche nächste Studienthemen könnten sich zum Beispiel mit dem marinen Bewuchs an Schiffen oder mit der Wechselwirkung von Ökologie, Wellen und Strömung im Wattenmeer befassen.
EnviSim4Mare
Die Versuchseinrichtung ist Teil des vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) mit insgesamt rund 8,79 Millionen Euro geförderten Projekts „EnviSim4Mare“. Das Leichtweiß-Institut der TU Braunschweig, Abteilung Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau, erhält von der Gesamtfördersumme für ihr Teilvorhaben 7,86 Millionen Euro. Davon entfallen auf die Planungs- und Baukosten der Forschungsanlage rund sieben Millionen Euro. Beteiligt sind neben dem Leichtweiß-Institut für Wasserbau das Alfred-Wegener-lnstitut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und das Unternehmen Jörss-Blunck-Ordemann GmbH sowie weitere assoziierte Industriepartner und Behörden.
Stimmen zur Forschungsanlage
Prof. Dr. Angela Ittel, Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig
„Die Eröffnung des Kanals ist ein bedeutender Tag für unsere Universität, aber noch bedeutender für die Wissenschaftler*innen, die sich mit großer Begeisterung für dieses Vorhaben eingesetzt haben. Unsere Forschung am Leichtweiß-Institut für Wasserbau insgesamt und insbesondere unsere Arbeit am Salzwasser-Wellen-Strömungskanal unterstreichen unser deutliches Bekenntnis zur Nachhaltigkeit und die exzellenten Leistungen unserer Forschenden. Die aktuellen und zukünftigen Forschungsthemen tragen unmittelbar zur Energiesicherheit und zukünftigen Klimaneutralität in Deutschland bei.“
Stephan Weil, Niedersächsischer Ministerpräsident
„Mit dem neuen Salzwasser-Wellen-Strömungskanal ist eine europaweit einmalige Versuchs- und Forschungseinrichtung entstanden. Die hier gewonnenen Erkenntnisse werden die Planung und den Bau von Offshore-Windenergieanlagen weiter optimieren und damit den Ausbau der Windkraft auf See beschleunigen. Neben dem Großen Wellenkanal „GWK +“ in Hannover ist der Salzwasser-Wellen-Strömungskanal in Braunschweig ein weiterer Leuchtturm des Wissenschaftsstandortes Niedersachsen und sicherlich ein Meilenstein für die niedersächsischen und deutschen Küsteningenieurwissenschaften – zukunftsorientierte Forschung made in Niedersachsen.“
Dr. Thorsten Kornblum, Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig
„Der neue Salzwasser-Wellen-Strömungskanal der Technischen Universität ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass in Braunschweig nach Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft gesucht wird. Unsere Wissenschaftsregion setzt mit diesem europaweit einzigartigen Forschungsgerät ein bedeutendes Zeichen in Sachen zukunftsorientierter Forschung. Die Windenergie wird in Zukunft eine zentrale Rolle für unsere Stromversorgung aus erneuerbaren Quellen spielen. Die Forschungsergebnisse der TU werden dabei einen wichtigen Beitrag zur Optimierung von Offshore-Windenergieanlagen leisten.“
Dieter Janecek, Koordinator der Bundesregierung für die Maritime Wirtschaft und Tourismus
„Die Offshore-Windenergie stellt mittlerweile einen zentralen Eckpfeiler der Energiewende dar und versorgt Millionen von Menschen mit grünem Strom. Auf dem Weg zur Klimaneutralität müssen wir jedoch den Bau neuer Windparks weiter beschleunigen. Die Bundesregierung wird alle Hebel daransetzen, um die Schnelligkeit von Genehmigungsverfahren zu erhöhen und die Produktion von Konverterplattformen in Deutschland voranzutreiben. Gleichzeitig stärken wir im Rahmen der maritimen Forschungsförderung die Entwicklung neuer Offshore-Technologien und deren Widerstandsfähigkeit in rauen Umweltbedingungen, die mit der innovativen Großforschungsanlage untersucht werden können. Auch dies trägt dazu bei, die Offshore-Windkapazitäten zu erhöhen.“
Nils Goseberg, Professor Küsteningenieurwesen und Seebau, Technische Universität Braunschweig
„Mit dem Salzwasser-Wellen-Strömungskanal können wir nun erstmalig alle wesentlichen Umweltparameter zur Exposition maritimer Technologien im Meer in einer Versuchsanlage und auf einer sehr großen Längenskala kontrollieren. Dies ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Synthese zwischen Nutzung und Schutz unserer Meere. Neben kostenintensiven Naturbeobachtungen in unseren Meeren durch Forschungsschiffe können wir nun in definierten Laborbedingungen an Land erforschen, welchen Einfluss das Meer und seine Kräfte auf die Anlagen und umgekehrt haben.“
Kontakt
Prof. Dr.-Ing. Nils Goseberg
Technische Universität Braunschweig
Leichtweiß-Institut für Wasserbau
Abteilung Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau
Beethovenstraße 51a
38106 Braunschweig
Tel.: 0531 391-3930
E-Mail: n.goseberg(at)tu-braunschweig.de
www.tu-braunschweig.de/lwi/hyku
Dr.-Ing. David Schürenkamp
Technische Universität Braunschweig
Leichtweiß-Institut für Wasserbau
Abteilung Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau
Beethovenstraße 51a
38106 Braunschweig
Tel.: 0531 391-3937
E-Mail: d.schuerenkamp(at)tu-braunschweig.de
www.tu-braunschweig.de/lwi/hyku
Presseinformation aus dem MAGAZIN der TU Braunschweig