„Überall war Schlamm.“ Jonas Westphal ist immer noch geschockt von dem, was er im Süden Spaniens erlebt hat. Der Braunschweiger Architekturstudent studiert derzeit an der Universitat Politècnica in València. Dort wurde er unmittelbar Zeuge der Flutkatastrophe und Helfer bei den Rettungsarbeiten. Hier berichtet er von seinen sehr persönlichen Erlebnissen.
Seit gut zwei Monaten lebe ich nun in Spanien, um im Rahmen meines Auslandssemesters Architektur zu studieren. Während ich abends noch an einer Abgabe saß, wurde ich durch ein schrilles Geräusch aus meinem Arbeitsprozess gerissen. Laute Sirenen fingen auf meinem und allen Mobilgeräten meiner Mitbewohner an zu ertönen: Eine Textinfo kündigte ein Unwetter der Alarmstufe Rot an – dabei hatte dieses schon lange begonnen. Draußen stürmte es, wie ich es noch nie erlebt hatte. Der Wind war so stark, dass man kaum das Haus verlassen konnte.
Unsere Wohngemeinschaft befindet sich im Zentrum von Valencia und somit nördlich des Turia-Kanals. Der Turia-Fluss, der früher durch die Stadtmitte floss, hat in der Vergangenheit häufig Überschwemmungen verursacht, darunter die verheerende Flut von 1957. Als Reaktion darauf wurde der Flusslauf umgeleitet, sodass er nun südlich der Stadt verläuft. Durch diese Maßnahme sind die zentralen und nördlich gelegenen Gebiete Valéncias, wie das unsere, effektiv vor künftigen Überschwemmungen geschützt. Die Gebiete im Süden allerdings nicht. Sie liegen nicht nur außerhalb des durch den neuen Kanal geschützten Bereichs, sondern auch in der Nähe der Berge, was zu einem höheren Zufluss an Regenwasser führt und das Risiko von Überschwemmungen dort zusätzlich erhöht.
Im Nachhinein erfuhr ich, dass die verspätete Warnung daran lag, dass vor etwas mehr als einem Jahr die Katastropheneinheit UVE (Unitat Valenciana d’Emergències) vom Staat kurz nach dessen Gründung aus Kostengründen wieder deaktiviert wurde. Dadurch fielen überlebenswichtige Frühwarnsysteme weg.
Über Umwege zum Flughafen
Durch das Unwetter kam sowohl der Straßen- als auch der Flugverkehr zum Erliegen. Meinen für diesen Tag für eine Beerdigung gebuchten Flug konnte ich um einen Tag verschieben. Doch der Weg zum Flughafen stellte sich deutlich schwieriger heraus als erwartet: Der öffentliche Verkehr war quasi stillgelegt. Sämtliche Straßen waren überlastet und es bewegte sich kein einziges Auto mehr. Ein Freund brachte mich mit seinem Motorrad kurzerhand über die Gehwege zum Flughafen. So erreichte ich mein Ziel und kam zum Glück gut bei meiner Familie in Bremen an.
Vier Tage später befand ich mich wieder auf dem Weg zurück. Das Unwetter war noch nicht vollständig vorüber und Videos in den Nachrichten und sozialen Medien bereiteten mir große Sorge. Das vollbesetzte Flugzeugt näherte sich bei Nacht dem Sturm, die Turbulenzen waren deutlich spürbar. Ich schaute zwischen den Regentropfen auf die verschwommenen Lichter der Stadt Valéncia. Die Wolken über uns bildeten eine schwarze Wand, als ein Blitz hindurchschoss. Kurz darauf kam eine Durchsage von einer jungen Frauenstimme: „In case of emergency, please don’t take any personal belongings with you.” Die nette Ansage stand ein wenig im Widerspruch zu dem beängstigenden Inhalt. Mich packte gewaltige Angst, wie ich sie selten hatte. Letztendlich landeten wir wohlbehalten. Mittlerweile fuhren auch wieder Taxis. Auf dem Nachhauseweg prägten zerfetzte Mülltonnen, umgekippte Verkehrsschilder und umgerissene Bäume das Stadtbild Valéncias. Die Straßen in diesem sonst so lebendigen Ort waren leer.
Plastiktüten statt Gummistiefel
Für den nächsten Tag hatte ich mich mit Freundinnen und Freunden verabredet, in den Süden Valéncias zu fahren, um den direkt betroffenen Menschen zu helfen. Meine Freunde waren bereits in den Vortagen vor Ort und vertraut mit den Umständen. Einige Busse, die schon wieder fuhren, brachten uns in einer Dreiviertelstunde Richtung Süden. Ich freute mich darauf, unterstützen zu können, andererseits graute es mir, mich dem ganzen Leid zu nähern. Gleichzeitig wuchs mein Ärger auf diejenigen, die den menschengemachten Klimawandel negieren und eine umweltgerechte Politik und überlebenswichtige Frühwarnsysteme verhindern.
Nach knapp einer Stunde Busfahrt kamen wir an, fast alle Mitfahrenden stiegen aus, ausgerüstet mit Besen, Abziehern und Gummistiefeln. Letzteres hatten wir nicht, daher stiegen wir mit Hosen und Socken in die Plastiktüten und anschließend in unsere Schuhe. Die Tüten fixierten wir mit Kreppband an unseren Beinen. Die Masken schützen uns vor Krankheitserregern: Gesprochen wurde von Hepatitis A, Tetanus und bakteriellen Hauterkrankungen. Stehende und warme Gewässer bilden das ideale Umfeld für Bakterien, Viren und Parasiten. Hinzu kommen Krankheitsüberträger wie Ratten, Kakerlaken und Moskitos. Mit diesem Wissen im Hinterkopf machten wir uns also zu Fuß auf den Weg, denn die Busse fuhren nicht weiter. Je näher wir der Katastrophe kamen, desto mehr stockte mir der Atem.
„Überall war Schlamm“
Zuerst sah ich riesige Haufen an zusammengeräumten Objekten am Straßenrand. Darunter befanden sich kaputte Stühle, zerrissene Matratzen, verbeulte Kühlschränke, zerstörte Verkehrsschilder, sogar Autos, die gerade noch so an ihrer Form zu identifizieren waren, und vieles mehr, das durch den Schlamm und die Beschädigungen nicht mehr erkennbar war. Überall war Schlamm. Er war so dicht, dass er nicht von allein ablief. Die Menschen versuchten ihn daher aus den Häusern heraus auf die Straßen herunterzuschieben. Die spürbare Kraft der Natur war gewaltig. Alles, was die Flut erreichen konnte, wurde zerstört: zerbeulte und sogar zerborstene Garagentore, Cafés und Geschäfte ohne auch nur ein einziges heiles Möbelstück, braune Farbe an fast allen Häusern bis mindestens einen Meter über dem Bordstein… Je tiefer ich mich der Stadt näherte, desto intensiver wurde es. Der Schlamm war so hoch, dass ich meine eigenen Schuhe nicht mehr sehen konnte. Teilweise erreichte er hier vor wenigen Tagen noch eine Höhe von drei Metern.
Laut Medien sind innerhalb von acht Stunden 300, teilweise bis zu 500 Millimeter Regen gefallen, also bis zu 500 Liter Wasser pro Quadratmeter. Im Durchschnitt entsprach das etwa 50 Liter pro Quadratmeter in einer Stunde. Bei einem durchschnittlichen Regen in Deutschland fallen pro Stunde nur ungefähr sechs Liter Wasser, also knapp ein Zehntel dessen, was in Valéncia gefallen ist.
Persönliche Andenken sind für immer fort
Beim Auswischen eines Hauses habe ich mit dem Besitzer, einem 79 Jahre alten Mann gesprochen. Sein Name ist Juanjo. Er erzählte mir, dass er schon immer in diesem Haus lebe. Nun seien alle persönlichen Dinge, die sich im Erdgeschoss befanden, für immer fort. Seine Möbel, persönliche Andenken an seine Vorfahren, selbst seine Autos und sein Motorrad in der Garage seien beschädigt. Juanjo erzählte, sie funktionierten nicht mehr. So sei es wohl mit vielen Dingen. Entweder sie sind mit der Flut fortgeschwommen oder man könne sie wegschmeißen. Und dazu kommt noch der ganze Dreck. Auch wenn wir nach etwa drei Stunden mit circa 20 Freiwilligen das Gröbste heraus gewischt hatten, bleiben die Wände und der Boden komplett verschmutzt.
Ich bin froh, dass so viele mit anpacken. Juanjo und seiner Frau wäre es unmöglich gewesen, die Regale hin und her zu tragen, die schweren Holztische wieder an ihren ursprünglichen Ort zu schieben und diese riesigen Mengen an Schlamm heraus zu befördern. Auch wenn das meiste erst einmal beseitigt wurde, wird der Gestank die Bewohnerinnen und Bewohner noch eine Weile begleiten. Beim Helfen spüre ich immer wieder den starken Zusammenhalt der Spanierinnen und Spanier. Niemand überlegt lange, wie Dinge funktionieren könnten, niemand diskutiert oder meckert. Alle sind da und packen an.
Abends müde zuhause angekommen, schaute ich Nachrichten: Der König war in die betroffenen Gebiete gefahren, um sich ein Bild der Lage zu machen und sein Mitgefühl auszudrücken. Wegen der späten Warnnachrichten und des Katastrophenmanagements waren viele Menschen sehr verärgert, sie bewarfen den Besuch mit Schlamm und Beschimpfungen. Später gab es Vermutungen, dass die Proteste auch von Rechtsextremisten instrumentalisiert wurden, um die Unzufriedenheit mit der Regierung unter den Menschen zu intensivieren.
Spenden sammeln und verteilen
An den nächsten Tagen gab es neue Aufgaben, so fuhren wir zu einem großen Möbelhaus. Dort wurde die zentrale Anlaufstelle eingerichtet, von wo die Hilfsgüter verteilt wurden. Diese sind zuvor im Stadion Valéncias gesammelt und auf die LKWs verteilt worden, welche den Ort mit viel Gehupe, Geklatsche und Jubel verließen und schließlich in den Süden Valéncias fuhren. Der Möbelmarkt wurde spontan zu einem Depot für Hilfsgüter umfunktioniert. Alle möglichen Spenden werden hier angeliefert: Nudeln, H-Milch, Kekse, Bohnen, Dosenfisch, Marmelade, Toast, Baby-Brei und viele andere Lebensmittel auf der einen Seite, Gummistiefel, Besen, Kleidung, Schuhe, Windeln, Reinigungsmittel, Pappteller, Holzbesteck, und andere Gebrauchsgegenstände auf der anderen Seite.
Meine Aufgabe war es, zusammen mit weiteren Freiwilligen diese Güter an den richtigen Orten zu sammeln und zu verteilen. In der Nahrungsabteilung haben wir „Mixtos“ vorbereitet, Essens-Notpakete, die dann an Haushalte weitergegeben wurden. Hierbei packten wir aus allen verschiedenen Nahrungskategorien etwas in einem Karton zusammen. Ich habe mir häufig vorgestellt, wie die Menschen die Pakete entgegennehmen und sich darüber freuen. Gleichzeitig wurde mir dabei erneut klar, wie ernst die Lage ist. Dennoch war es schön zu sehen, wie viel gespendet wurde und wie sehr die Menschen halfen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Ständig hatten wir etwas zu tun, denn immer wieder kamen neue Hilfsgüter an.
Überfüllte Müllhaufen
Auf dem Heimweg liefen wir wieder durch die verschmutzten Straßen, die zumindest schon deutlich besser aussahen, als am ersten Tag. Vorbei an Krankenwagen und Einsatzwagen des Militärs und an überfüllten Müllhaufen. Vielleicht lag dort auch der Lieblingssessel, von dem Juanjo erzählte. Die zerstörten Autos stapelten sich am Wegrand. Viele von ihnen hatten ein orangenes aufgesprühtes X darauf, teilweise auch aufgeklebt. Ich wunderte mich, was es damit auf sich hatte. Später erklärte mir eine Freundin, dass das X markieren würde, in welchen Autos sich Leichen befunden haben.
Die Zahl der Toten ist inzwischen auf über 220 angestiegen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf und den vielen zerstörten Wohnungen, den uns umgebenen Soldatinnen und Soldaten, den kaputten Zäunen, zerstörten Scheiben, abgesperrten Wegen und so viel erlittenem Leid hatte ich manchmal das Gefühl, mich in einem Kriegsgebiet zu befinden. Es war eine einzige Katastrophe.
Als wir uns wieder auf den Heimweg machten, schaute ich aufs Handy. In einer Mail steht, dass unsere Vorlesungen und Übungen nun für einen Monat lang digital stattfinden werden. So habe ich mir meinen Auslandsaufenthalt nicht vorgestellt. Ich lehnte mich erschöpft an die Fensterscheibe des Busses, der mich nach Hause bringt und fragte mich, wie lange es dauern wird, bis sich der Ort von diesem Zustand erholt, ob er es überhaupt jemals tun wird? Auch wenn eines Tages die Autos ersetzt, die Bäume nachgewachsen, die Wände gestrichen und der Schlamm aus den letzten Nischen entfernt wurde, werden die Menschen, die in der Naturkatastrophe umgekommen sind, dies nie erleben. Und es wird nicht die letzte Katastrophe gewesen sein, im Gegenteil.
Jonas Westphal
Kontakt: Öffentlichkeitsarbeit Geschäftsstelle pr-fk3(at)tu-braunschweig.de