Begegnet bin ich Professor Pierick und seinem Institut am Ende der 1980er Jahre. Ich studierte damals Bauingenieurwesen. Zu den zahlreichen Fachvorlesungen im Grundfachstudium gehörten die Fächer „Bahnbau“ und „Bahnverkehr“. Sie waren damals Pflichtfächer und wurden zusammen mit Straßenwesen in einer Klausur geprüft. Während der Besuch von „Bahnbau“ für mich als angehendem Bauingenieur noch plausibel war, so fremdelte ich wie die meisten meiner Kommilition:innen durchaus mit „Bahnverkehr“. Signale, die Berechnung von Bremswegen und Fahrplänen – ja, das erschien vielen von uns weit weg zu sein von echten Bau-Fächern wie Statik und Stahlbau. Und in Rechnerübungen des Pierick´schen Instituts ging es obendrein auch noch um so Exotisches wie Linien-, Fahrzeugeinsatz- und Personaleinsatzplanung in Verkehrsunternehmen.
Das von Professor Pierick geleitete Institut war groß. Neben den beiden Etagen im Hochhaus Pockelsstraße 3 gab es zusätzlich mehrere Außenstellen nebst einer eigenen Abteilung „Sicherung des Luftverkehrs“, die von Professor Form geleitet wurde. Im Bereich von Professor Pierick arbeiteten Wissenschaftler:innen unterschiedlichster Couleur. Sie kamen unter anderem aus der Elektrotechnik, der Informatik, der Mathematik. Die Bauingenieur:innen waren dort in der Minderheit. Die damalige Deutsche Bundesbahn, nach der Wende auch die Deutsche Reichsbahn, stellten per Abordnung Personal mit der Gelegenheit zum Promovieren ab, das seine Expertise zusätzlich mit in die Lehre einbrachte. Das Institut war aufs Ganze gesehen ein großer fachlicher Schmelztiegel. Auch für die Studierenden, die damals nicht vorrangig aus dem Bauingenieurwesen kamen, sondern überwiegend aus der Informatik und der Elektrotechnik.
Professor Pierick – er war Maurerumschüler, Baufacharbeiter und studierter Bauingenieur – folgte mit der interdisziplinären Ausrichtung seines Instituts und dessen Lehre der Idee seines Vorgängers Professor Lagershausen, aufkommende neue Technologien zur Weiterentwicklung des Systems Bahn mit den klassischen Disziplinen unter einem Dach zu vereinen. War es unter Professor Lagershausen in den 1950er Jahren die Nachrichtentechnik, so erkannte Professor Pierick sehr frühzeitig die Bedeutung und die Potenziale der aufkommenden Informatik. Nicht nur für das System Bahn selbst, sondern auch für die studentische Ausbildung. Wir Studierende sollten die Potenziale der Computertechnik erkennen und in die Arbeitswelt hinaustragen. Die Rechner-Pools unserer Fakultät gehen auf seinen Einsatz und sein Wirken als CA-Beauftragter des Landes Niedersachsen zurück. Hier also schließt sich der Kreis zu dem, was – wie oben beschrieben – bei manchen Studierenden des Bauingenieurwesens für Verwunderung sorgte.
Das Neue nutzen, um das Alte, Bewährte voranzubringen. Innovation in Wort und Tat. Dafür stand Professor Pierick. Dem Vorstand der Deutschen Bundesbahn soll er im Zusammenhang mit der damals noch in Planung befindlichen Schnellfahrstrecke Hannover – Würzburg „gedroht“ haben, solle ihnen – der Bahn –, einfallen, an der Strecke noch Signale aufzustellen, würde er des Nachts seine Säge herausholen und die Signale wieder absägen. Er setzte auf das Neue. Technologietransfer war für ihn selbstverständlich, keine Hülse. Er betätigte sich als Unternehmensgründer. Die ipw Ingenieurgesellschaft GmbH und die in Braunschweig ansässigen Teile der Alstom Signal GmbH und der WSP Infrastructure Engineering GmbH gehen auf ihn zurück und bereichern – wenn auch z.T. unter anderen Namen – noch heute die hiesige eisenbahnspezifische Unternehmenslandschaft.
Ich selbst habe Professor Pierick nur für gut eineinhalb Jahre zum Chef gehabt und in dieser Rolle auch nur wenig wahrgenommen. Im Sommer 1996 wurde er emeritiert und Professor Pachl wurde sein Nachfolger.
Sehr viel mehr verband mich mit Prof. Pierick die technische und juristische Aufarbeitung des ICE-Unfalls 1998 im niedersächsischen Eschede. Etwa vier Jahre lang arbeiteten wir als Teil des Gutachterteams der Staatsanwaltschaft eng zusammen, nahmen an den Sitzungen der Sonderkommission teil, trugen gemeinsam vor Gericht vor, recherchierten und rekonstruierten mit kühlem ingenieurmäßigen Sachverstand. Dabei spürten wir immer wieder auch das Leid und die Erschütterung, die mit diesem Unglück einhergingen. Es waren für uns beide vier emotional sehr bewegte Jahre. Ich bin daher nicht nur für die sehr kollegiale und wertschätzende Zusammenarbeit dankbar, sondern auch dafür, Professor Pierick in dieser besonderen Zeit von seiner sehr einfühlsamen und menschlichen Seite kennengelernt haben zu dürfen.
Dr.-Ing. Gunnar Bosse, Wissenschaftlicher Oberrat am Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung