„Living the City“ zeigt in der Haupthalle des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof und virtuell über 50 Geschichten, die vom Stadtmachen sprechen. Projekte aus Architektur, Kunst und Stadtplanung. Professorin Tatjana Schneider vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt (GTAS) ist Teil des kuratorischen Teams. Bianca Loschinsky hat mit ihr über die begehbare Stadtcollage, gerechte Städte, das Institut für örtliche Angelegenheiten und eine Zukunft für große Warenhäuser gesprochen.
Frau Professorin Schneider, Sie sind Teil des kuratorischen Teams der Ausstellung „Living the City“. Welche Idee steckt hinter dem Titel?
Stadt besteht natürlich aus Häusern, Parks und Straßen und gebauten Infrastrukturen, in denen man wohnt und die man nutzt. „Living the city“ bedeutet aber noch mehr: nämlich, dass wir diese Stadt machen und gestalten und dass die gebaute Umwelt Ausdruck ist von unseren Vorstellungen. Wir können Stadt ganz fundamental mit beeinflussen.
„Living the City“ ist eine begehbare Stadtcollage, die man über die Website virtuell besuchen kann. Was können die Besucherinnen und Besucher dort erleben?
Leider kann die Ausstellung wegen der Pandemie nur noch über unsere Website besucht werden. Doch lädt auch die virtuell begehbare Stadtcollage zur aktiven Teilnahme ein. In acht Themenfeldern sortieren und überlagern sich mehr als 50 Stadterzählungen. Man soll hier ein weiteres Stück Stadt erleben – mit Projekten aus dem gesamten europäischen Raum und darüber hinaus, die von diesem Stadtleben sprechen. Ursprünglich waren an die 100 Veranstaltungen, Arbeitstreffen, Tagungen, Konferenzen und Perfomances für den Zeitraum der Ausstellung geplant. Vieles musste allerdings pandemiebedingt abgesagt werden. Einige Events fanden bis vor kurzem noch statt und auch unsere Donnerstagabend Gespräche werden im virtuellen Raum weitergeführt.
Dieses vielschichtige Programm war für uns von Anfang wesentlicher Teil des Konzepts. Die Halle im ehemaligen Tempelhofer Flughafen sollte als erweiterter Stadtraum für die Zeit der Ausstellung fungieren. Es sollte ein Ort werden, an dem man sich aufhalten möchte. Uns war wichtig, dass städtisches Leben und städtische Funktionen in die Halle einzieht: Die Shops an der Seite waren zum Teil bespielt, zum Beispiel durch eine Artist Residency des „Torhaus Berlin“, eine Initiative die im Diskurs mit der Stadtgesellschaft mögliche Zukünfte für Tempelhof erdenkt. Es gab außerdem ein Café, mehre Workshop-Bereiche, immer donnerstags einen Buchladen, Veranstaltungen, kuratorische Stadtführungen. Wir haben uns das Ganze also immer als ein Stück Stadt vorgestellt, in dem man sich ein Stück weit treiben lassen kann. Man tauscht sich aus, tanzt, produziert auch, beispielsweise Zeitungen und Radiobeiträge.
Gibt es ein Projekt, das Sie besonders beeindruckt hat?
Wir haben als kuratorisches Team – Lukas Feireiss, der als freier Kurator arbeitet, The GreenEyl als ausstellungsmachendes Büro und ich mit der Architekturtheorie – knapp 50 Projekte aus einer sehr großen Vielfalt von rund 450 Projekten ausgewählt. Dabei wollten wir nicht nur Projekte zeigen, die rein aus der Stadtentwicklung oder der Architektur kommen, sondern eine Mischung aus vielen unterschiedlichen Disziplinen, aus zivilgesellschaftlichen Initiativen, verteilt über ganz Europa. Dabei kam auch immer wieder die Frage danach auf, wie der Raum definiert ist, aus dem die Projekte kommen. Also: Was ist denn eigentlich Europa? Wo fängt es an, wo hört es auf? Wir haben uns dann entschieden, über die geographischen Definitionen hinauszugehen und haben auf Themen geschaut, auf Belange, die uns alle angehen, wie man an der Gestaltung dieser Belange teilnehmen kann.
Ein paar Projekte liegen mir in diesem Feld besonders am Herzen, weil sie das Konzept der Ausstellung im Kleinen widerspiegeln. So ein Projekt aus Belgrad: Ministarstvo Prostora (Ministerium für Raum). Die eher kleine Gruppe aus Aktivist*innen besteht seit etwa zehn Jahren und setzt sich vehement gegen die Stadtentwicklungspolitik zur Wehr, insbesondere der Privatisierung des Ufers an der Sava. Das Kollektiv hat es geschafft, eine sehr breite Zivilgesellschaft zu mobilisieren, um korrupte Machenschaften aufzudecken. Ministarstvo Prostora stellt die Frage danach, wer denn überhaupt Stadt macht und kämpft dabei gleichzeitig für eine Stadt, die der gesamten Bevölkerung zu Gute kommen soll. Und das alles sehr spielerisch, beispielsweise durch einen Protest mit Schwimmreifen und aufblasbaren Wasserbällen gegen das in Belgrad geplante neue Luxusviertel Waterfront.
Welches weitere Projekt gehört Sie zu Ihren Favoriten?
Da möchte ich unbedingt Larissa Fassler nennen. Die in Berlin lebende Künstlerin macht fantastisch anmutende Zeichnungen, zum Beispiel vom Kottbuser Tor in Berlin. „Kotti (revisited)“ heißt eine ihrer Arbeiten. Es sind Zeichnungen von Häusern, die sie nicht unbedingt mit Maßbändern aufnimmt. Larissa Fassler misst häufig mit ihrem Körper und nimmt auch auf, was sie riecht, was sie hört. Sie geht immer wieder hin und beobachtet und notiert und überlagert diese Raumerfahrungen in ihren Zeichnungen. Daraus entstehen großformatige Collagen, die davon sprechen, dass Stadt weder homogen, noch schwarz-weiß oder abstrakt ist. Stadt ist dicht, voll, bunt und schwierig. Und es gilt, sich dieser Schwierigkeiten anzunehmen.
Dann wären da noch die Arbeiten des niederländischen Fotografen und Filmemachers Jan Dirk van der Burg, der Trampelpfade fotografiert. In seinen Arbeiten mit dem Titel „Desire Lines“ zeigt er diese selbstgemachten Wege als Zeichen zivilgesellschaftlichen Ungehorsams. Er thematisiert damit eine Planung, die bestimmte Dinge vorgibt und in vielen Bereichen Sinn macht, aber in anderen Bereichen wieder an ihre Grenzen stößt oder Leute außen vorlässt. Die Trampelpfade sind ein Ausdruck dafür. Es ist ein Aneignen von Raum und ihn sich nutzbar machen. Darüber denkt man normalerweise nicht nach, aber es ist sehr relevant für Stadtplanung und Architektur.
In der Ausstellung ist eine riesige gelbe Gummiente zu sehen. Welche Bedeutung hat sie?
Die Gummiente gehört zu dem Belgrader Projekt „Ministarstvo Prostora“ und ist eine Ikone dieses Widerstands geworden. In der Umgangssprache steht das Wort Ente in Serbien auch für Betrug. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten der Interpretation. Ich mag auch die Referenz zum Coding, wo der Begriff „rubber duck debugging“ eine Methode zum Finden von Fehlern in Computerprogrammen beschreibt. Der freundlichen und nicht-widersprechenden Ente werden so lange komplizierte und unausgegorene Dinge erzählt, bis eine Lösung gefunden wurde. Dann, heißt es, kamen Gummienten auch in Protesten gegen die allzu üppigen Entenhäuser russischer Oligarchen zum Einsatz. Populär ist die Gummiente allerdings schon länger – spätestens seit der niederländische Künstler Florentijn Hofman übergroße Versionen davon produziert.
Lieben und Leben, Schaffen und Teilnehmen, Lernen, Spielen, Bewegen und Träumen sind die Schlagwörter, unter denen die Projekte zu erleben sind – also das, was das Dasein in der Stadt definiert und prägt. Was entdecken die Besucher*innen unter „Lieben“?
In diesem Teil der Ausstellung sind Projekte zu finden, die die Verbundenheit mit einem Ort oder einem lokalen Platz und das Kämpfen dafür ausdrücken. So zum Beispiel „Riace Città Futura“, ein Ort in Süditalien, der aufgrund seiner progressiven Politik gegenüber Menschen auf der Flucht berühmt geworden ist. Dann gibt es die Flussbäder in Basel, Bern, Zürich und Genf, aber auch ein Parkprojekt in Brüssel: Parckfarm. Hier wird ein Park mit Agrikultur und Micro-Farming verknüpft.
In der Ringvorlesung „Kernbegriffe zur Stadt der Zukunft“ haben Sie im vergangenen Semester verschiedene Urbanisierungsprozesse skizziert, die ausgrenzten. Wie kann man eine Stadt gerechter entwickeln?
Erst einmal muss die Wahrnehmung davon geschärft werden, was Planungsinstrumente überhaupt sind und was die Konsequenzen von Planung sind. Planung ist eben nicht einfach nur ein neutrales Ziehen von Linien. Planung bedeutet immer Eingriff. Um Stadt gerechter zu entwickeln, muss breiter verhandelt werden. Ein Bewusstsein dafür muss aber auch schon in den Schulen geschaffen werden. Wie drückt sich dann Gerechtigkeit aus? Sicher geht es nicht nur um Zugänglichkeiten, sondern zum Beispiel auch um Ressourcen: Was wird eigentlich verbaut, woher kommt das Material, wie und von wem wird es verarbeitet? Wichtig ist auch: Wer macht bei Planung eigentlich mit? Wer sitzt mit am Tisch? In Deutschland gibt es eine sehr starke Expert*innenkultur. Stadtplanung sollte jedoch von Anfang auf breite Füße gestellt werden, um herausfinden, was überhaupt gebraucht wird und wie all davon profitieren können.
Welche Aufgabe können dabei Architekt*innen und Stadtplaner*innen haben?
Architekt*innen sollten mehr Fragen stellen. Zum Beispiel: Macht Neubau wirklich noch Sinn, wenn so viele Flächen leer stehen? Diese Entscheidungen haben mit Kosten zu tun, aber auch mit der Nutzung von Ressourcen und damit dann auch mit globalen klimatischen Veränderungen. In diesen Bereichen wird immer noch viel zu selten Verantwortung für eigenes Handeln übernommen. Häufig wird dann viel in sogenannte innovative Technologien investiert, die uns aus dem Dilemma des Klimanotstands herausbugsieren sollen. Ich finde Einstellungen wie diese im besten Fall naiv. Natürlich betrifft das aber nicht nur Architekt*innen, sondern ebenfalls Auftraggeber*innen – und viele andere, die am Bauen beteiligt sind.
Das „Institut für örtliche Angelegenheiten“ des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt (GTAS) hat Wünsche von Braunschweigerinnen und Braunschweigern für eine solidarische Stadt aufgenommen, die sie auch in die Stadtpolitik einbringen will. Wie kann und sollte sich Braunschweig demnach verändern?
Im Institut für örtliche Angelegenheiten haben sich etwa 40 Studierende mit sehr unterschiedlichen lokalen Anliegen beschäftigt. So ging es um die tierischen Mitbewohner*innen unserer Stadt und inwieweit es bestimmte Architekturen Tieren schwierig machen zu siedeln, weil zum Beispiel die Fassadengestaltung flach und hart ist und sich deshalb kein Vogel einnisten kann. Andere haben sich mit Stadtbäumen beschäftigt – denn die starke Trockenheit der letzten Jahre hat unseren Grünräumen sehr zugesetzt. Es wurde hier gemeinsam mit Initiativen überlegt, welcher Typ Baum gepflanzt werden kann, oder wie eine für die Bäume gute Platzgestaltung aussehen, wie Wasser gesammelt werden könnte.
Andere Studierende haben sich mit der Wohnungsnot in Braunschweig auseinandergesetzt. Das mag keine so riesige Krise sein wie in Frankfurt/Main, Berlin oder Hamburg. Aber auch hier ist der Wohnungsmarkt angespannt und viel Neubau wird als Eigentum im höheren Preissegment realisiert. Braunschweig könnte an dieser Stelle, so die Studierenden, von anderen Städten lernen, beispielsweise genossenschaftliche Baumodelle noch viel stärker einzubeziehen. Schließlich gab es auch Überlegungen, wie das private Auto in der Innenstadt so unattraktiv wie möglich gemacht werden könnte – durch eine weitere Stärkung der Radwege und des öffentlichen Verkehrs.
Mit der Galeria Kaufhof gibt es nun mitten in der Stadt einen Ort, der neu entwickelt werden könnte. Das Institut für örtliche Angelegenheiten will sich mit möglichen Zukünften beschäftigen. Wie könnten diese aussehen?
Es gibt Beispiele aus anderen Städten und Kommunen, wo zum Beispiel große leerstehende Gebäude von der öffentlichen Hand übernommen wurden. Eine Veränderung der Eigentumsstrukturen kann wichtige Impulse setzten. Die Ansiedlung von Funktionen, die nicht durch Kommerz geprägt, kann außerdem Innenstädte ganz neu beleben. Neben einer Reihe von Seminaren, die sich mit dem Gebäude und seinen Geschichten auseinandersetzen, arbeitet das GTAS in diesem Semester gemeinsam mit Norman Hack vom Institut für Tragwerksentwurf im Bereich Entwurf.
In einer ersten Phase haben wir uns unter anderem mit Beispielen aus anderen Städten auseinandergesetzt, zum Beispiel Chemnitz oder Oldenburg. Städte, die es geschafft haben, mit unterschiedlichen Modellen leerstehende Kaufhäuser zu bespielen. Wir fragen gemeinsam mit den Studierenden danach, was zum Beispiel möglich wäre, wenn wir das Haus als Ressource sähen, welche anderen Modelle der Eigentümerschaft vorstellbar wären? Wir wollen mit diesen Untersuchungen Möglichkeitsräume öffnen, um Stadt anders zu denken. Warum nicht urbane Produktionen mitten in der Stadt? Warum nicht Pilz- und Fischfarmen? Warum nicht fantastische Reallabore? Warum kein Andershaus, gemeinwohlorientiert verwaltet?
Wie sieht für Sie die Stadt der Zukunft aus? Was sind die Herausforderungen?
Wichtig ist mir nicht nur lokal zu denken, denn wir verlieren sonst den Klimanotstand aus den Augen. Die Stadt der Zukunft gehört allen auf diesem Planeten. Deswegen gilt es auch über unsere eigene sehr privilegierte Insel Deutschland hinauszuschauen. Stetiges Bauen, stetiger Wachstum, business as usual – das ist kein Modell für die Zukunft.
Interview von Bianca Loschinsky mit weiteren Abbildungen im MAGAZIN der TU Braunschweig