Folgen der Massenproduktion von Stadt und die Alternativen
Bauen wird nicht nur in der Architekturausbildung und ‑praxis als ein Allheilmittel gesehen. Im Kontext der Wohnungskrise fordern die Wirtschaft, die Stadtgesellschaft und die Politik mehr Bauen. Mit der Globalisierung des Immobilienmarktes sind nun auch Gebäude zu einer Wahre geworden, die als Kapitalanlage vermehrt werden will. Aktuelle Klimakrise und Ressourcenknappheit zeigen allerdings, welche Folgen ein fortlaufendes Wachstum auf einem begrenzten Planeten hat. Jedes Gebäude verbraucht Ressourcen und hat eine Ausstrahlung weit über die Baugrenzen hinaus: Es ist Teil der Infrastruktur und des globalen Marktes, es will mit Energie und Wasser versorgt werden, es verbraucht Ressourcen und produziert Abfall, es beansprucht den Boden.
Die im Sommer 2020 in einem Seminar erarbeitete und vom Institut für Städtebau und Entwurfsmethodik (ISE) veröffentlichte Publikation ist ein Versuch, die Grenzen und Folgen des Bauens zu verstehen und Alternativen aufzuzeigen. Dabei beschäftigen sich die Seminarteilnehmer:innen mit Fragen, wie z. B.: Welchen Einfluss hat ein Gebäude, und kann es einen positiven Fußabdruck haben? Bietet das Bauen tatsächlich eine Antwort auf die Wohnungsfrage? Wie können unsere Städte wachsen? Wie viel kann und soll noch gebaut werden? Welche Herausforderungen können besser mit Nicht-Bauen oder Umbauen bewältigt werden?
Die Publikation kann hier heruntergeladen werden.
Frau Tsvetkova, in welchem Kontext ist „Grenzen des Bauens“ entstanden?
Zu Beginn war es eine Art Entdeckungsreise. Im Rahmen eines Seminars sind wir nach Berlin gefahren und haben uns „alternative“ Projekte angeschaut: gemeinschaftliches Wohnen, urbane Gärten, selbstorganisierte Kulturorte. Studierende haben unterschiedliche Themen aufgegriffen und die besonderen Qualitäten dieser Initiativen herausgestellt. Danach stellten wir uns aber die Frage: Zu was genau bilden diese Projekte eine Alternative, wovon grenzen sie sich eigentlich ab?
Gleichzeitig kamen Kolleg*innen von der TU Berlin auf unser Institut zu und fragten, ob wir an dem Kooperationsprojekt „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ teilnehmen möchten. Durch dieses Kooperationsprojekt wird die Perspektive des fachlichen Nachwuchses jedes Jahr zu einem Bestandteil des Dialogs rund im die Nationale Stadtentwicklungspolitik, unterstützt durch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) und Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI). In den Jahren 2019-2020 wurde das Rahmenthema „Borderline City“ von mehreren deutschen und internationalen Universitäten bearbeitet. Es ging also um Städte und Grenzen, wobei jede Universität eine eigene Interpretation des Themas entwickelte. In diesem Kontext wollten wir am ISE die Massenproduktion der Stadt und die Grenzen des Bauens kritisch betrachten und taten das im Rahmen eines weiteren Seminars.
Sie haben die Studierenden im Seminar betreut und den mehr als einjährigen Redaktionsprozess begleitet. Welche Herausforderungen gab es dabei zu bewältigen?
Ein hohes Maß an Offenheit war in diesem Prozess manchmal herausfordernd, vor allem für die Studierenden. Im Seminar war es mir wichtig, dass wir uns als Gruppe schrittweise an die Themen herantasten und gemeinsam Entscheidungen zu der Bearbeitung treffen. Ich habe zwar die allgemeine Fragestellung formuliert und für den theoretischen Hintergrund gesorgt, aber die Ideen kamen von Studierenden. Durch einen Austausch in der Gruppe konnten wir die ersten Textentwürfe schärfen und eine spannende Kombination an Themen zusammenstellen. Allerdings taten sich manche Studierende schwer mit einem offenen Ansatz, und nicht alle diskutierten gerne in der Gruppe.
Zudem sind bei einem solchen Arbeitsprozess Frustphasen vorprogrammiert: Kaum wurde die Leidenschaft für ein Thema entdeckt, und schon wirkt die Anfangsthese durch erste Recherche langweilig und blass. Im nächsten Schritt überfordert die lange Literaturliste allein beim Anblick. Und irgendwann wird eigener Text so unübersichtlich, dass einige Abschnitte gekürzt der gestrichen werden. Diese Hürden müssen Studierende erstmal überwinden. Aber jede einzelne Überwindung ist eine kleine Offenbarung, die persönliche Möglichkeiten und Fähigkeiten sichtbar macht. Darum bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass in einem ergebnisoffenen Prozess die besten Ideen und Lernmöglichkeiten entstehen.
Überraschend einfach war es wiederum, Studierende für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bauen und Architekturpraxis zu begeistern. Ich stellte mir vor, dass Architekturstudierende wenig Lust auf Themen wie Flächenverbrauch, Leerstandmanagement, Vergabeverfahren oder Rechtsformen haben. Doch das Interesse im Seminar war groß, und wir hatten tolle Diskussionen.
Wer sollte die Publikation unbedingt lesen und warum?
Auch wenn es nach einer brutalen Selbstüberschätzung klingt: Alle, die sich mit Stadtentwicklung und Bauen beschäftigen, sollten mindestens einmal durchblättern. Wir reden hier über eine kleine universitäre Veröffentlichung. Aber es gibt einfach so viele Publikationen über das Bauen, und nur wenige über das nicht Bauen. Ich halte es für wichtig, die Folgen der eigenen Tätigkeit zu verstehen und beispielweise die Arbeit an einem Gebäude in einem großen Kontext zu sehen. Vielleicht ist es auf dem ersten Blick interessant, ein gänzlich neues Gebäude oder Quartier zu entwerfen. Aber: Ist es wirklich besser, eigene Fantasie grenzenlos schweifen zu lassen, anstatt nach komplexen Ansätzen für dringliche Herausforderungen zu suchen? Im Kontext der Klimakrise, des Ressourcenmangels und der zunehmenden Kommerzialisierung der Städte wäre es fatal, wenn wir weiterhin auf die Massenproduktion und den Neubau setzen. Wir benötigen andere Strategien. Damit eine Veränderung passiert, braucht es ein Umdenken auf allen Ebenen: In der Architekturpraxis und Stadtplanung, in der Politik und Verwaltung, in der Wirtschaft und Wissenschaft.
Grenzen haben immer etwas Negatives, schränken sie doch bisherige Möglichkeiten ein. Welche Alternativen werden in der Publikation aufgezeigt? Und hat der „Traum vom Eigenheim“ darin noch Bestand?
Der Titel bezieht sich in erster Linie darauf, die Grenzen des Bauens aufzuzeigen und nicht darauf, sie zu setzen. Diese Grenzen sind beispielsweise durch die Ausschöpfung von natürlichen Rohstoffen, die Belastbarkeit der städtischen Infrastruktur, die Extremwettergefahren oder auch einfach durch die Endlichkeit der Ressource Boden bereits da.
Außerdem stoßt die Strategie „Bauen, Bauen, Bauen“ bundesweit auf ihre Grenzen. Zurzeit gibt es in Deutschland so viel Wohnraum wie noch nie, es wird immer mehr gebaut, und doch verschärft sich die Wohnungskrise zunehmend. Der „Traum vom Eigenheim“ ist dabei hoch problematisch und wird extrem politisiert. Im Seminar ging es unter anderem um den sogenannten Donut-Effekt: Selbst in schrumpfenden Regionen werden suburbane Gebiete geschaffen, während die Stadtzentren leer stehen. Die Vorstellung, durch den Neubau Familien in die Stadt zu locken oder sie zu halten trifft dabei auf eine Glorifizierung des Eigenheims als eine Universallösung für das Familienleben, die Altersvorsoge und die Wohnungsfrage zugleich. Große Universallösungen sollten stutzig machen, denn sie haben immer große Nebenwirkungen. So bekommen die tatsächlichen Herausforderungen der Städte und der Stadtgesellschaft zurzeit nicht genügend Aufmerksamkeit: Der Mangel an kleineren und bezahlbaren Wohnungen für Haushalte mit ein bis zwei Personen, die vielen alleinstehenden Senior*innen in zu großen und nicht barrierefreien Häusern, Kommerzialisierung der Bestände und Verdrängung der Mieter*innen, Förderlücken für Sanierung im Denkmalschutz. Diese Entwicklungen sind in der Tat etwas Negatives.
Darum hinterfragten wir im Seminar unseren eigenen Beruf und suchten nach Alternativen und Beispielprojekten. Es ging um Innenentwicklung statt Neuversiegelung, Umbau statt Neubau, kreative Nutzungskonzepte statt Abriss, Grundstücksvergabe nach Konzept in Erbbaurechten statt Bieterverfahren, Orte des Gemeinschaftens und gemeinwohlorientierte Projektstrukturen statt Ausverkauf der Stadt. In der Publikation sind verschiedene Beispiele beschrieben und illustriert: von kommunalen Leerstandmanagement, Förderprogrammen und Konzeptverfahren, über gemeinwohlorientierte und gemeinschaftliche Räume und Organisationsformen, bis hin zu Revitalisierung und Umnutzung von verschiedenen Raumtypologien. Wir haben keine eierlegende Wollmilchsau gefunden, die den Aufruf nach „Bauen, Bauen, Bauen“ ersetzt. Aber wir entdeckten viele kluge Strategien und kreative Modellprojekte, die Mut machen.
Wie sieht für Sie ein positives Bild zukünftiger Stadtentwicklung aus?
Wie ein Wimmelbild: Viele kleine Initiativen und eine Vielfalt an Projekten, alle unterschiedlich, und jedoch durch eine gemeinsame Vision einer lebenswerten und zukunftsfähigen Stadt vereint. Die Stadtentwicklung ist kleinteilig, vielfältig, gemeinwohlorientiert, nichtspekulativ, selbstorganisiert. Dass das geht, sehen wir schon heute. Eine Vielfalt an Akteur*innen ist über die Bundesrepublik verteilt. Einige sind im Netzwerk Immovielien aktiv oder engagieren sich als Stadtmacher*innen im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik. Vielleicht entsteht so ein Zukunftsquartier in den kommenden Jahren auch in Braunschweig, zum Beispiel mit dem Projekt CoLiving Campus. In großen Städten und kleinen Gemeinden gestalten immer mehr Bewohner*innen ihr Umfeld selbst und übernehmen gemeinsam die Verantwortung für ihre Nachbarschaften. Dieser Trend stimmt mich positiv.
Ja! Wir arbeiten zurzeit an einer weiteren Publikation im Rahmen eines Seminars. Im vergangenen Sommersemester wollten wir noch einmal über die Grenzen unseres Berufes und der klassischen Architekturtypologien schauen: Einige Gebäude- und Nutzungsarten sind im Architekturstudium und in der Praxis gut bekannt, im realen Stadtraum entwickeln sich jedoch Zwischennutzungen, spontane Umwidmungen und fließende Transformationen. Im Seminar wollten wir diese selbstgemachte Stadt besser kennenlernen, und zwar bei uns in Braunschweig. Wir durften einige spanende Gespräche führen, besondere Orte besuchen und ein wenig hinter die Kulissen blicken. Einige der Initiativen sind in der Stadt bereits bekannt, vor allem unter Studierenden. Trotzdem ist die Braunschweiger Projektelandschaft einerseits erreichbar und präsent, andererseits ein wenig versteckt und kaum publiziert. Deshalb möchten wir die besonderen Orte und deren Macher*innen in einer Publikation sichtbarer und greifbarer machen. Ich denke, dass sowohl Architekt*innen als auch die kommunale Politik und Verwaltung von selbstorganisierten Stadtinitiativen lernen können. Und in jedem Fall sind sie ein wichtiger Teil der künftigen Stadt-Wimmelbilder.