Forschungsprogramm

Als Folge von mehreren katastrophalen Unfällen der vergangenen Jahre ist die Sicherheit von Bauwerken wiederholt in den Fokus der öffentlichen Diskussion gerückt. Beispiele hierfür sind der Einsturz der Eislaufhalle in Bad Reichenhall (Winter [w.112]) oder der Einsturz der Koror-Babeldaob-Brücke (Burgoyne et al.[w.114]). Beide Tragwerke haben nach vielen Jahren planmäßiger Nutzung und trotz regelmäßiger Inspektionen plötzlich und unvorhergesehen versagt. Abgesehen von derart katastrophalen Ereignissen erhalten die Qualität, die Umweltverträglichkeit und die Nachhaltigkeit von Bauwerken sowie das ökonomische Management der Infrastruktur auf allen Entscheidungsebenen der Volkswirtschaften eine immer größere Bedeutung.

So beträgt der monetäre Wert der Verkehrsinfrastruktur im Bundesgebiet ca. 600 Mrd. EURO. Bei einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von ca. 60 Jahren bewirkt die Verlängerung der Nutzungsdauer um 10 Jahre eine Wertschöpfung von ca. 100 Mrd. EURO, was mit den Erhaltungsaufwendungen abzugleichen wäre. Dies erfolgt im Rahmen eines Life-Cycle-Engineerings (LCE) vor allem mit modernen Lebensdauermanagement-systemen (LMS), die eine kontinuierliche Überwachung der Bauwerke gewährleisten und bedarfsgerechte Prognosen über die Zustandsentwicklung der Bauwerke geben können.

Ziel des Forschungsverbundes ist die Entwicklung eines Konzeptes zur Beschreibung und Bewertung der Zustandsänderung und Qualität von Bauwerken des Konstruktiven Ingenieurbaus unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von chemischen und physikalischen Einwirkungen.

Für die Beurteilung des aktuellen Bauwerkzustandes sowie seiner zukünftigen Entwicklung sollen sowohl erkenntnisorientierte Modelle auf der Mikroebene des Porenraumes als auch wirklichkeitsnahe Prognosemodelle für die Makroebene zur Verfügung gestellt werden. Die Modellgleichungen und Parameter sollen auf Grundlage experimenteller und numerischer Untersuchungen der Struktur der Baustoffe auf mehreren Skalen unter den relevanten Einwirkungen abgeleitet werden. Hierbei ist wesentlich, dass die Prognosemodelle die Phänomene nicht getrennt als Insellösung abbilden sollen, sondern dass das Zusammenwirken der Prozesse integrierend erfasst wird, um so zu einer integralen Aussage über die Zustandsänderung zu gelangen. Hierfür sind fachübergreifende Methoden und Lösungsansätze erforderlich, die in unterschiedlichen Modellierungstiefen eingesetzt werden müssen.

Die zur Alterung beitragenden Prozesse werden mit Modellen im Rahmen der Kontinuumsmechanik und der Theorie poröser Medien mit dem Ziel beschrieben, die Zustandsentwicklung eines Bauwerks über die Lebensdauer mit numerischen Simulationen prognostizieren zu können. Wesentlich ist die Unterscheidung in einleitungsspezifische Alterungsprozesse, wie z. B. die Änderung der Oberflächenbeschaffenheit, die wesentlich für das Eindringen von Stoffen in das Bauwerk ist, und in wirkungsspezifische Alterungsprozesse, die die Tragfähigkeit der tragenden Bauteile beeinflussen und gegebenenfalls reduzieren.

Daraus folgen mehrere Teilziele:

  • Entwicklung von Prognosemodellen, die die Skalenübergänge von der Mikrostruktur bis zur Bauwerksebene durch Homogenisierung des Werkstoffverhaltens implizit erfassen. Die Modelle sollen mit experimentellen und numerischen Untersuchungen der vielfältig gekoppelten Prozesse validiert werden. Die Modelle für die Beschreibung des mechanischen Verhaltens von Beton, Stahl und Holz müssen mit den Ansätzen zur Beschreibung der Reaktionskinetik, von Phasenübergängen, der Temperatur- und Feuchteentwicklung sowie der Stoffausbreitung in Bauteilen gekoppelt werden. Die Zeit- und Raumskalen sind dabei unterschiedlich, sodass Skalenübergänge zwischen den Modellierungsstufen zu überwinden sowie Modelle für unterschiedliche Prozesse miteinander zu koppeln sind.
  • Eine wesentliche Aufgabe der Zustandserfassung und -bewertung ist die Bestimmung des aktuellen Baustoff- und Tragwerkszustandes, um hiermit eine zuverlässige Prognose zu ermöglichen. Wenn der wirkliche Baustoffzustand unbekannt ist, müssen Identifikationsverfahren für die Validierung der Modelle zur Verfügung stehen [w.32], [w.33]. Moderne probabilistische Verfahren beruhen auf dem Bayes´schen Satz und sind aus mathematischer Sicht "wohl gestellt", aber häufig sehr aufwändig. Sie erfordern dazu die Berücksichtigung von Unsicherheiten in den Modellparametern, den Widerständen und den Einwirkungen. Dies bedingt wiederum probabilistische Konzepte sowie Prognosemodelle, die eine Zuverlässigkeitsaussage bei sich ändernden Parametern und Variablen zulassen. Hier sollen zunächst deterministische Bewertungsschemata für die während der Alterung auftretenden Einwirkungen und Zustandsänderungen entwickelt werden, die in einem zweiten Schritt um die während der Lebensdauer auftretenden Unwägbarkeiten erweitert werden.
  • Untersuchung der Resttragfähigkeiten von ausgewählten Tragwerken und Konstruktionen unter andauernden und wechselnden chemischen und physikalischen Einwirkungen sowie die Entwicklung von Ingenieurmodellen zur Erweiterung vorhandener Nachweiskonzepte um den Einfluss aus Zustandsänderungen. Hierfür sind Prozess- und Schadensindikatoren zu definieren. Neue Nachweiskonzepte müssen über die bisherigen Ansätze für inelastisches Materialverhalten hinausreichen und die Phänomenologie der vielschichtigen Schädigungsmechanismen integral berücksichtigen. Insbesondere sollen Modelle für die Nutzung nach der Einleitungsphase, also bei fortschreitender Schädigung, entwickelt werden.

Das methodische Vorgehen erfolgt baustoffübergreifend, die Modelle sollen jedoch baustoff-spezifisch für Einzelfälle erprobt und validiert werden.