„Die Farbe ist in der Architektur ein ebenso kräftiges Mittel wie der Grundriss und der Schnitt. Oder besser: die Polychromie, ein Bestandteil des Grundrisses und des Schnittes selbst“, so der Architekt und Künstler Le Corbusier. Neben der formalen Raumbildung prägen Materialien und Farben die Wahrnehmung von Stadtraum und Architektur. Ihre Wirkung beeinflusst somit das Wohlbefinden der Menschen, die diese Räume täglich beleben. Unter dem Themenschwerpunkt „Colour – Public Space – Wellbeing“ wurden Architektur-Studierende des Instituts für Landschaftsarchitektur der Technischen Universität Braunschweig im produktiven Umgang mit verschiedenen Medien geschult, um das Thema Wohlbefinden im öffentlichen Raum experimentell zu untersuchen. Die Studierenden näherten sich den zu untersuchenden Orten sowohl fotografisch räumlich mit der Publikation „Landscape for Architects“ als auch zeichnerisch atmosphärisch mit Skizzen, Collagen und Aquarelle an. Diese Analysestrategien wurden zunächst auf dem Campus der TU Braunschweig erprobt, um in einem viertägigen Intensivworkshop ihre Anwendung auf urbane Situationen in Berlin zu finden. Begleitet wurde das Seminar von dem Fotografen Hanns Joosten und der chilenischen Grafikdesignerin Elisa Cordero-Jahr, deren Forschungsgebiet die Farbe ist.
Frau Cordero-Jahr, welche Rolle spielt Farbe in der Architektur und im urbanen Raum?
Farbe dringt sehr schnell in unsere Wahrnehmung ein, sie ist unmittelbar, wie Musik oder Gerüche. Der städtische Raum besteht aus Architektur, Straßen und Natur wie Flüssen, Bäumen, Pflanzen usw. … All das umgibt uns, wir leben darin und all das hat Farbe.
Diese uns umgebenden Farben bilden eine chromatische Atmosphäre, die uns direkt beeinflusst, wenn auch fast immer unbewusst. Der Architekt Peter Zumthor sagt, sie beeinflusst unsere Emotionen. In der Architektur – zum Beispiel – ist es etwas ganz anderes, einen rot gestrichenen Raum zu betreten als einen blau gestrichenen. Die unterschiedliche Wellenlänge jeder Farbe beeinflusst uns körperlich. Andererseits ist Farbe auch Kommunikation, sie gibt uns Informationen.
Dies ist ein Ergebnis der menschlichen Evolution, in der wir gelernt haben, beispielsweise eine reife Frucht von einer unreifen anhand ihrer Farbe zu unterscheiden. Außerdem geben wir Farben eine kulturelle Bedeutung, zum Beispiel bedeutet Rot für viele Menschen Gewalt oder Leidenschaft, aber auch Kommunismus und andere Dinge, die jede Kultur ihnen verleiht. Daher ist die Rolle der Farbe in der Architektur und im öffentlichen Raum komplex und muss im Einzelfall untersucht und gestaltet werden.
Wie beeinflusst Farbe die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen in städtischen Räumen?
Farbe ist ein wesentlicher Bestandteil des öffentlichen Raums, Farbe ist unvermeidlich. Der französische Designer Jean Philippe Lenclos sagt, dass es in Städten drei Arten von Farben gibt: die festen Farben des gebauten Raums (Architektur, Straßen), die mobilen Farben wie Menschen oder Autos, die sich ständig bewegen, und das Licht des Himmels und der Gewässer, wie Seen oder Flüsse. Auch die Natur in den Städten (Bäume, Pflanzen) hat Farbe. All diese Faktoren machen die chromatische Atmosphäre des Stadtraums aus. Jede Stadt, jedes Viertel hat seine eigene chromatische Atmosphäre, einige sind bunter und andere neutraler.
In Norwegen stellen viele Stadtteile derzeit die leuchtenden Farben ihrer Häuser wie Gelb, Rot oder Blau auf die Trendfarbe Grau um. Sie haben einen sehr langen und dunklen Winter, und Grau ist sicherlich keine Farbe, die ihren Winter erhellen wird. Vielleicht verursacht dies gesundheitliche Probleme, das wissen wir noch nicht. Dies wird von zwei Architekten namens Alex Brooker und Kine Agelo untersucht. Sie sprechen über das Phänomen „Das Ergrauen Norwegens“.
Das Grün der Bäume bewirkt die positive Wahrnehmung eines Stadtviertels, da es im Sommer Schatten spendet und der statischen Architektur Bewegung verleiht. Auch Bäume, die sich im Herbst orange oder rot verfärben und dann kahl werden, verleihen den Straßen Dynamik. Andererseits wirken schlecht beleuchtete Viertel mit gedämpften Farben unsicher.
Gibt es historische Beispiele, bei denen Farbe eine besonders wichtige Rolle in der Architektur oder im öffentlichen Raum gespielt hat?
In der Renaissance wurden italienische Villen mit gelbem Ocker gestrichen, der aus Mineralien vor Ort gewonnen wurde. Zur gleichen Zeit wurden in Schweden Häuser mit einem natürlichen Mineral namens Falunrot (auch Schwedenrot genannt) gestrichen. In Deutschland spielt vielleicht auch die Farbe Gelb eine wichtige Rolle, um ein bisschen italienische Sonne in die dunklen Städte des Nordens zu bringen. Diese natürlichen Materialien, rein oder auch untereinander und mit weißem Kalk vermischt, färbten die Städte und gaben ihren Bewohner*innen eine Identität.
Andere Städte wurden nur aus Holz gebaut, wieder andere nur aus Lehm. Jede Stadt hat mit lokalen Materialien gebaut und dies war Teil ihrer Identität. Heute, in einer globalisierten Welt, ähneln sich die Städte. In allen steckt internationale Architektur. Die aktuellen Modefarben in der Architektur sind Grau, Hell und Dunkel und sogar Schwarz. Es gab Zeiten, in denen Rosa verwendet wurde, in anderen Grün, usw. Ein historisches Beispiel in Lateinamerika ist die rote Farbe der Maya-Pyramiden in Mexiko, die die Lebensenergie des Blutes symbolisiert. Aus Ägypten hingegen ist bekannt, dass die Pyramiden von Gizeh weiß gestrichen waren, was das Heilige darstellte. Auch das Taj Mahal in Indien ist aus religiösen Gründen weiß.
Welchen Beitrag können Farben zur Gestaltung von städtischen Räumen leisten, damit diese inklusiver und zugänglicher werden?
Inklusivität kann erreicht werden, indem Menschen und Nachbar*innen in die Farbentscheidungen des Stadtraums einbezogen werden. Dies kann durch partizipative Workshops geschehen, bei denen die Menschen, die vor Ort leben, die Farben auswählen können. Ich habe Erfahrung mit der Farbgestaltung von Sozialwohnungen in Chile, wo es uns durch Partizipation gelungen ist, Häuser in den Farben zu streichen, die die Menschen selbst zu ihren Favoriten gewählt haben, da sie diese mit positiven Emotionen oder Empfindungen in Verbindung bringen, die sie selbst entdeckt haben.
Gibt es Farbkombinationen, oder -muster, die besonders problematisch im öffentlichen Raum sind?
Dunkle Farben in engen Straßen lassen die Umgebung noch dunkler erscheinen. Wenn alle Häuser grau sind, hat die Stadt keine Persönlichkeit mehr. Dann wird die Stadt flach und langweilig. Jedes Gebäude hat seine eigenen Details, seine eigene Persönlichkeit. Diese wird durch die Farbe betont. Ich hoffe, dass die Farbe im Zusammenhang mit den anderen Gebäuden ausgewählt wird. Wenn Farben vernachlässigt werden, sieht es schnell unheimlich aus. Vor allem in schlecht beleuchteten Straßen. Dies ist jedoch auch subjektiv, da ein Haus, in dem die alten Farben als Zeugen des Laufs der Zeit geschätzt werden, ein Erbe sein kann, solange es als solches gepflegt und geschätzt wird.
Wie können Farben zur Verbesserung der Sicherheitswahrnehmung und des Wohlbefindens in der Stadt beitragen? Können sie hier ein positives Beispiel nennen?
Meiner Meinung nach geht es in erster Linie um die Pflege des öffentlichen Raums, das heißt darum, die Gebäude und Straßen in gutem Zustand zu halten. Wohlbefinden entsteht in einem gepflegten Raum, der die Hausfassaden (die privat sind) sowie die Gärten (privat und öffentlich), die Bäume, den Zustand der Gehwege, die Sauberkeit und die Beleuchtung umfasst. Helle Farben bringen mehr Licht in enge Gassen, Bäume spenden Schatten an sonnigen Tagen, Blumen sorgen im Frühling für Farbe, breite Gehwege bieten die Möglichkeit, Stadtmobiliar wie kleine Bänke aufzustellen, auf denen man sitzen, sich ausruhen und vielleicht plaudern kann.
Vor vielen Jahren gab es eine NASA-Studie, um die ideale Farbe für eine Mondbasis zu finden. Nach langer Recherche kam man zu dem Schluss, dass es keinen bestimmten Farbton gibt, sondern dass das Geheimnis in der Kombination liegt. Es mussten Farben sein, die so in diesem kleinen Raum platziert werden, dass sie das Gefühl vermittelten, es handele sich immer wieder um einen neuen Raum. Valparaíso in Chile ist ein gutes Beispiel dafür. Es ist eine Hafenstadt auf einem Hügel, die viele Blickwinkel und Ecken bietet und sich jeden Moment verändert. Sie ist immer anders, obwohl es die gleiche Stadt ist.
Haben sie eine Lieblingsfarbe?
Im Moment ist es Türkis. Und ich mag es in Kombination mit dunklem, warmem Rosa. Mir gefällt auch Silber. Generell gefallen mir Farbkombinationen besser als einzelne Farben.
Vielen Dank!
Interview von Bianca Loschinsky mit Videobeitrag im MAGAZIN der TU Braunschweig