Ergänzend zum Objekt des Monats – E 605 – möchte ich ein Buch vorstellen, das ich vor einigen Jahren im Antiquariat entdeckt habe: Ernst Klees 1977 erschienener Bericht „Christa Lehmann. Das Geständnis der Giftmörderin“.
Noch heute sind die Substanz und die Person im kollektiven Gedächtnis präsent:
E 605 – das „Schwiegermuttergift“ & Christa Lehmann – die „Pralinenmörderin“.
Der „Jahrhundertfall“, wie Klee ihn nennt, beherrschte 1954 monatelang die Schlagzeilen. Es war das erste Mal, dass das Pflanzengift zu Mordzwecken verwendet wurde – und zwar gleich dreimal durch dieselbe Täterin. Erst dies machte auch die Serie von Suiziden und versehentlichen Vergiftungen sichtbar, die schon früher eingesetzt hatte und die danach weiter anschwoll. Aktuellen Schätzungen zufolge geht die Anzahl von Suiziden mit Organophosphaten in die Hunderttausende.
Ernst Klee, ein kritischer Journalist mit sozialpädagogischer Ausbildung, hatte Ende der 1960er Jahre begonnen, die Verhältnisse in deutschen Gefängnissen aus der Nähe zu erforschen. In diesem Zusammenhang vermittelte ihm die Leiterin eines Gefängnisses den Kontakt zu Christa Lehmann, mit der er tagelang Gespräche führte und diese aufzeichnete. Klee betrieb Sozialforschung „von unten“ in der aus ihren autoritären Strukturen erwachenden Nachkriegszeit. Das Buch lässt Lehmann selbst ausführlich zu Wort kommen. Sie erzählt ihre eigene Geschichte, und Klee liefert den Kontext. Beide Stimmen zusammen tragen zur kritischen Bestandsaufnahme des Strafvollzugs der unmittelbaren Nachkriegszeit bei. In der von Klee dokumentierten Anklageschrift und Urteilsbegründung wird die Kontinuität mit der NS-Vergangenheit deutlich. Das Bild einer Psychopathin, die moralisch haltlos, triebgesteuert und gefühlskalt sei, zieht sich durch die Dokumente und wurde in der den Prozess begleitenden Presse weiter ausgemalt.
Klees Bericht über die Gespräche zeigt ein anderes Bild – das einer jungen Frau aus der Arbeiterklasse, die während der 1930er und 1940er Jahre mehrfach den Arbeitsplatz wechseln muss, weil ein Vorarbeiter ihr nachstellt. Das Bild einer Frau, die sich dem Druck des Vaters, den Sohn eines wirtschaftlich gut situierten Freundes zu heiraten, nicht widersetzen kann und die dann, nun als Hausfrau, in wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit von Mann und Schwiegervater gerät, deren Geschäft ins Trudeln kommt. Die nach dem dritten Kind – das erste ist in der frühen Nachkriegszeit an Unterernährung gestorben – den Sex mit ihrem stets betrunkenen Mann nicht mehr ertragen kann und auf ihre Frage, wie sie denn noch mehr Kinder ernähren soll, keine Antwort bekommt. Keine Verhütung, kein Konsens.
Anfang 1952 hofft sie, dass ein Krankenhausaufenthalt des alkohol- und magenkranken Mannes eine temporäre Lösung wäre. Sie könnte dann wenigstens eine Zeitlang Wohlfahrtsgeld bekommen und sich von der Situation erholen. Ihr Vater, ein Hobbygärtner, hatte ihr E 605 gegeben und sie gewarnt, dass es sehr giftig sei. Im Februar geschah der erste Mord an ihrem Ehemann, der unentdeckt blieb, wie auch der zweite an ihrem Schwiegervater. Klee zeigt viele Facetten dieses Frauenlebens der frühen Nachkriegszeit auf. Lehmann erzählt, wie sie mit ihrer Freundin Cafés und Bars in Worms und Umgebung besuchte und wie sie neue Beziehungen einging. Aber für Klee ist dies kein „Beweis“ für ihre „Triebhaftigkeit“: Er sieht es viel mehr als die Wahrnehmung eines allgemeinen menschlichen Rechts an – das Recht auf (auch sexuelle) Selbstbestimmung. Lehmanns dritter Mordversuch galt dann eigentlich der Mutter ihrer Freundin, die Verdacht geschöpft hatte. Aus diesem Fall entstand das Attribut der „Pralinenmörderin“, denn Lehmann hatte mit dem Gift eine Praline präpariert, die aber eben die Freundin statt der Mutter aß. Nach ihrer Inhaftierung war Lehmann über viele Jahre suizidgefährdet, immer wieder versuchte sie sich selbst zu schädigen. Sie hatte sich sogar mit dem Blei eines Bleirohres selbst vergiftet, landete aufgrund der Halluzinationen, die solche Vergiftungen auslösen können, in der Psychiatrie.
Aufgrund der Gespräche mit Klee hat sie ihre Geschichte aufgearbeitet. Der etwas reißerisch wirkende Titel „Das Geständnis der Giftmörderin“ rührt daher, dass Lehmann die Tötungsabsicht für den dritten Todesfall erst im Laufe der Gespräche bewusst wurde. Nach ihrer Begegnung zieht Klee das Fazit, dass sie „nicht mehr als die eiskalte Gifthexe [dasteht], die planvoll, heimtückisch, aus niederen Beweggründen ihre Opfer umbrachte. Von der genußsüchtigen Lebedame ist nichts geblieben.“ (S. 180)
Lehmann hat viele Male vergeblich einen Antrag auf Begnadigung gestellt, bevor diesem – unterstützt durch die Aufarbeitung ihrer eigenen Schuld mit Hilfe von Klee – stattgegeben wurde. Sie lebte danach viele Jahre unter anderem Namen ein unauffälliges Leben.
Ernst Klee verbindet diese Dokumentation mit einem Plädoyer für einen anderen Umgang mit „Lebenslänglichen“ und für eine konsequente Reform des Strafvollzugs. Im journalistischen und historischen Durchforsten und Aufarbeiten des autoritären deutschen Erbes in verschiedenen „Anstalten“ der Nachkriegszeit hat sich Ernst Klee Verdienste erworben, an die es sich gerade heute zu erinnern lohnt. Stilistisch kommt das Buch dem sehr viel bekannteren, aber auch stärker fiktionalisierten „Tagebuch einer Diebin“ von Dacia Maraini nahe - auch dies das Zeugnis einer Zeit, in der es möglich war, Alternativen zur Ausschlusslogik unserer kapitalistischen Gesellschaften zu entwerfen.
Von Bettina Wahrig