Uwe Moshage
Rheologie kommunaler Klärschlämme - Messmethoden und Praxisrelevanz
Zusammenfasssung
Die Rheologie ist ein Teilgebiet der Physik, das sich mit dem Fließen und Verformen von Stoffen unter Einwirkung äußerer Kräfte beschäftigt. Obwohl bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erste wissenschaftliche Untersuchungen zum Fließverhalten von Klärschlämmen durchgeführt wurden, werden rheologische Parameter bei der Charakterisierung von Schlammeigenschaften heute in der Regel nicht berücksichtigt. Bereits das Gesetz von Stokes impliziert die Viskosität als elementare Größe zur Beschreibung des Absetzverhaltens. Trotzdem ist in der neueren Literatur kein Hinweis darauf zu finden, dass die Ergebnisse rheologischer Messungen zur Charakterisierung des Absetz- oder Entwässerungsverhaltens von Schlämmen verwendet werden.
Vor diesem Hintergrund war es Ziel dieser Arbeit, eine Abhängigkeit des großtechnisch in Entwässerungsdekantern zu erreichenden Trockenrückstandes von den rheologischen Eigenschaften kommunaler Klärschlämmen zu überprüfen. Darüber hinaus wurde untersucht, inwieweit eine gezielte Veränderung der rheologischen Eigenschaften zu einer Verbesserung des Entwässerungsergebnisses beitragen kann.
Da die Rheologie im Bereich der Siedlungswasserwirtschaft sowohl während der Ausbildung als auch in der Ingenieurpraxis in der Regel nur rudimentär behandelt wird, werden in der Arbeit zunächst die rheologischen Grundlagen ausführlich vorgestellt. Aufbauend auf der Definition rheologischer Grundgrößen wird das Fließverhalten von Flüssigkeiten bei Scherbeanspruchungen erläutert. Eine Übersicht über die für rheologische Untersuchungen von Klärschlämmen geeigneten Messgeräte und Messsysteme bildeten die Basis für die Beschreibung von verbreiteten Mess- und Auswertemethoden.
Eine Auswertung der zum rheologischen Verhalten von Klärschlämmen publizierten Literatur zeigt ein Forschungsdefizit auf. In den bisher durchgeführten Untersuchungen wurde eine Vielzahl von Messsystemen verwendet. Schlämme wurden einerseits durch Siebung vorbehandelt, andererseits direkt in die Messeinrichtung gegeben. Die in Rotationsversuchen ermittelten Fließkurven basieren auf unterschiedlichen Versuchsprogrammen. Die Fragestellung nach der Existenz einer Fließgrenze konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Der Einfluss des Trockenrückstandes und der Temperatur auf die rheologischen Eigenschaften wurde von allen Autoren zwar qualitativ übereinstimmend charakterisiert, ein quantitativer Vergleich zeigt jedoch signifikante Unterschiede in den Versuchsergebnissen. In einigen Untersuchungen wurde versucht, das viskose Verhalten für alle Schlämme einer Schlammart durch eine gemeinsame Fließkurve abzubilden, die nur vom Feststoffgehalt der Klärschlammsuspensionen abhängig ist. Jedoch zeigen bereits die in den jeweiligen Veröffentlichungen dargestellten Rohdaten, dass sich auch bei gleichem Trockenrückstand erhebliche Unterschiede im rheologischen Verhalten verschiedener Schlämme einer Schlammart ergeben.
Aufgrund der geschilderten Forschungsdefizite war es notwendig, zunächst grundlegende Untersuchungen zum rheologischen Verhalten von Klärschlämmen durchzuführen.
Ein Vergleich verschiedener Messsysteme zeigt, dass ein unprofiliertes Zylindermesssystem für die Messung der rheologischen Eigenschaften von Klärschlämmen sehr gut geeignet ist. Über eine Vorbehandlung des Schlammes durch Siebung bei einer Maschenweite von 1,0 mm lassen sich Verkantungen großer Partikeln im Messspalt vermeiden.
Bei den durchgeführten Untersuchungen zur Thixotropie von Klärschlämmen stellte sich ein Gleichgewichtszustand bei Scherraten oberhalb von 250 s-1 erst nach mehr als einer Stunde Scherzeit ein. Die Strukturerholung nach erfolgter Scherung kann mehrere Stunden benötigen. Innerhalb der Prozessstufen von Abwasserreinigung und Schlammbehandlung werden Klärschlämme relativ hohen Scherraten nur über kurze Zeiträume ausgesetzt. Daher wird ein Gleichgewichtszustand bei hohen Scherraten in der Regel nicht erreicht. Fließkurven repräsentieren keine Schubspannungen im Gleichgewichtszustand. Entsprechende Messungen sind aber geeignet, die rheologischen Eigenschaften verschiedener Schlämme miteinander zu vergleichen, wenn bei allen Messungen ein identisches Belastungsprofil vorgegeben wird.
Bei der Analyse von Fließfunktionen unterschiedlicher Schlämme ist es sinnvoll, die Fließkurven mithilfe von Anpassungsfunktionen zu beschreiben. Die Fließfunktionen können dann über wenige Funktionsparameter approximiert und miteinander verglichen werden. In dem für die rheologischen Messungen verwendeten Scherratenbereich von 0 bis 500 s-1 erwiesen sich ein Modell nach Windhab sowie ein Hybridmodell aus den Fließfunktionen von Ostwald-de Waele und Bingham als sehr gut für die Erfassung der Fließkurven geeignet.
Fließgrenzen von Klärschlämmen wurden in bisherigen Untersuchungen ausschließlich auf der Grundlage von Fließmodellen berechnet. Die Messgenauigkeit des für die eigenen Untersuchungen verwendeten luftgelagerten Rheometers ermöglichte erstmals eine Bestimmung einer Fließgrenze, die dem Schubspannungswert entspricht, bei dem der Bereich der reversiblen elastischen Deformation endet und der Bereich der irreversiblen Deformation beginnt. Es zeigte sich, dass dieser Wert durchgängig unterhalb der über eine Anpassungsfunktion ermittelten scheinbaren Fließgrenze liegt. Zwischen der Fließgrenze und der Viskosität untersuchter Klärschlämme ergab sich ein deutlicher Zusammenhang. Dies ist ein Indiz dafür, dass jeder Schlamm eine individuelle Struktur aufweist, die Fließgrenze und viskoses Verhalten gleichermaßen beeinflusst. Somit ist eine Substitution eines der beiden Schlammparameter durch den anderen möglich.
Eine simultane optische und rheologische Messung eines Klärschlammes bestätigte auch optisch die Vermutung, dass ein Fließvorgang erst einsetzt, wenn die aufgebrachten Scherkräfte die Bindungskräfte von Makroflocken überschreiten. Die Zeit bis zur vollständigen Aufnahme der aufgebrachten Scherkräfte durch die Makroflocken ist abhängig von der Abbaugeschwindigkeit des Porenwasserdrucks und somit von der Porenmenge und -größe in der Schlammsuspension.
Sowohl der Betrag der Fließgrenze als auch die scheinbare Viskosität bei einem vorgegebenen Geschwindigkeitsgefälle ist bei jedem der untersuchten Schlämme mit Trockenrückständen von 2 - 10 % TR deutlich vom Feststoffgehalt abhängig. Schlämme, die auf den gleichen Feststoffgehalt von 5 % TR eingestellt wurden, unterschieden sich in den scheinbaren Viskositäten um maximal den Faktor 28 bei einer Scherrate von 500 s-1. Daraus ist zu schließen, dass neben dem Feststoffgehalt noch andere Parameter die rheologischen Eigenschaften eines Schlammes beeinflussen.
Als bedeutend für die rheologischen Eigenschaften der Schlämme stellte sich der Einfluss der Temperatur sowie der Gehalt an extrazellulären polymeren Substanzen heraus. Hingegen konnte keine signifikante Abhängigkeit zwischen den rheologischen Eigenschaften und dem Glühverlust sowie der Partikelgrößenverteilung festgestellt werden. Sowohl eine Herabsetzung als auch eine Erhöhung des pH-Wertes führte zu einer Verringerung der Viskosität. Zwischen dem optimalen Polymerbedarf bei einer Konditionierung mit Polymeren und den rheologischen Eigenschaften konnte kein Zusammenhang festgestellt werden.
Aufbauend auf den Ergebnissen aus der Untersuchung der grundlegenden rheologischen Eigenschaften von Klärschlämmen kann die Praxisrelevanz rheologischer Messungen abgeleitet werden. An einem Praxisbeispiel wird erläutert, in welcher Weise das in einer rheologischen Messung bestimmte thixotrope Verhalten eines Klärschlammes bei der hydraulischen Berechnung von Schlammförderleitungen berücksichtigt werden sollte, um eine Unterschätzung der hydraulischen Höhenverluste zu vermeiden.
Des Weiteren wird die der Arbeit zugrunde liegende Arbeitshypothese bestätigt. Es ist ein potentieller Zusammenhang zwischen dem großtechnisch in Dekantern erreichten Entwässerungsergebnis und der bei einer Scherrate von 500 s-1 ermittelten Schubspannung vorhanden. Diese Abhängigkeit wird durch einen ergänzenden Vergleich des Fließverhaltens mit dem Kennwert TR(A) und Laborentwässerungswerten validiert.
Gegenüber anderen Kennwerten zur Abschätzung des Entwässerungsergebnisses bietet eine rheologische Messung den Vorteil, dass die bei der großtechnischen Entwässerung vorherrschende Temperatur durch eine Temperierung der Schlammprobe während der Messung berücksichtigt werden kann. Aus dieser Möglichkeit lässt sich ein Potenzial für die Verbesserung des Entwässerungsergebnisses ableiten. Je geringer in den Untersuchungen der ermittelte Wert der Fließgrenze bzw. der Schubspannung ausfiel, desto besser war das Entwässerungsergebnis. Diese Feststellung impliziert, dass der Feststoffgehalt im Austrag eines Dekanters durch eine Herabsetzung der Fließgrenze bzw. der Viskosität erhöht werden kann. Aus den grundlegenden Untersuchungen ist bekannt, dass diese rheologischen Eigenschaften durch eine Erhöhung der Temperatur entsprechend verändert werden können. Vor diesem Hintergrund wird an einem Praxisbeispiel gezeigt, dass durch eine Temperaturerhöhung in einer Schlammfaulung ein verbessertes Entwässerungsergebnis erreicht werden kann. Der verbesserte Feststoffaustrag bei der großtechnischen Entwässerung kann über eine rheologische Messung prognostiziert werden.
Das dargestellte Beispiel weist auch für andere Kläranlagen - nicht zuletzt vor dem Hintergrund steigender Entsorgungskosten für Klärschlämme - zukünftig ein Potenzial zur Kostenminimierung aus. Die Anlagenkapazitäten vieler Faulungsanlagen ermöglichen vor allem in den Sommermonaten eine Erwärmung des Faulschlammes über den üblichen mesophilen Temperaturbereich hinaus. Wie das vorgestellte Praxisbeispiel zeigt, ist durch diese Erwärmung kein verminderter Abbau der organischen Trockensubstanz zu erwarten. Gleichzeitig kann ein besseres Entwässerungsergebnis erzielt werden. Unter der Voraussetzung, dass zur stärkeren Erwärmung des Faulschlammes nur die ohnehin auf der Kläranlage vorhandene überschüssige Wärmeenergie eines Blockheizkraftwerkes eingesetzt wird, fallen keine erhöhten Betriebskosten für die Faulschlammheizung an, es können jedoch Entsorgungskosten aufgrund der geringeren Faulschlammmenge nach der Entwässerung eingespart werden.
Aufgrund der erzielten Ergebnisse ist es jedem Kläranlagenbetreiber einer Anlage mit einer mesophilen Schlammfaulung zu empfehlen, die Vorteile einer Erhöhung der Faulraumtemperatur in einem Probebetrieb zu ermitteln. Aus einem Probebetrieb sind einerseits die Veränderung des Entwässerungsergebnisses und die damit verbundenen Kosteneinsparungen abzuleiten. Andererseits ist aber auch festzustellen, ob andere Auswirkungen der Umstellung, wie z.B. ein möglicher höherer Polymerbedarf oder eine erhöhte Rückbelastung, die Vorteile aufwiegen.