Gösta Ladiges
Expertensysteme für Kläranlagen unter besonderer Berücksichtigung der Stickstoffelimination in einstufigen Belebungsanlagen
Zusammenfasssung
Betreiber heutiger Kläranlagen werden mit den Prozessen der Nitrifikation und Denitrifikation, der biologischen und/oder chemischen Phosphatelimination und ggf. auch der Filtration konfrontiert. Das Betreiben der Kläranlagen erfordert daher in höherem Maße als bisher ein umfassendes Verständnis des Betriebspersonals über ihre Anlage und die dort ablaufenden Vorgänge. In verschiedenen Situationen kann es dazu führen, dass vor Ort erforderliches Wissen fehlt, um Situationen richtig einzuschätzen und die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Sinnvoll ist es daher, das Betriebspersonal mit Hilfsmitteln zu unterstützen, die über diese Informationen verfügen und sie dem Betreiber zugänglich machen. Eine Möglichkeit dazu bieten Expertensysteme, mit denen sich die verschiedenen Informationen so miteinander verknüpfen lassen, dass die einzelnen Problemstellungen gezielt behandelt werden können. Expertensysteme sind Computerprogramme, die Wissen über ein bestimmtes Einsatzgebiet enthalten. Durch ihren Aufbau sind sie insbesondere dort geeignet, wo das Lösen von Problemen auch Inhalte erfordert, die sich nicht in Form von Algorithmen darstellen lassen, also viel Erfahrungswissen umfassen, wie es in der Abwassertechnik der Fall ist.
Seit etwa 10 Jahren wird auch im Bereich der Kläranlagen an der Entwicklung von Expertensystemen zur Lösung unterschiedlicher Problemstellungen gearbeitet. Es wurde eine Vielzahl von Systemen entwickelt. Diese sind zum größten Teil für einzelne Teilaspekte konzipiert worden. Sie sind häufig allgemein gehalten, basieren überwiegend entweder ausschließlich auf qualitativem Wissen oder auf sehr einfachen Berechnungsalgorithmen oder sie enthalten nur für ganz spezielle Teilaspekte Modelle. Es ist aber kein System bekannt, das für die Probleme heutiger Kläranlagen in der Bundesrepublik Deutschland konzipiert und in der Lage ist, vor Ort den Betreiber einer Anlage mit konkreter, anlagenspezifischer und auch auf umsetzbare Berechnungswerte basierender Hilfestellung zu unterstützen.
Ein solches System wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit entwickelt. Ziel war es, dem Betriebspersonal ein anwendernahes Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, das für die wesentlichen Probleme einer Kläranlage heutigen Zuschnitts konzipiert wurde. Es kann im Bedarfsfalle konsultiert werden und arbeitet im Dialog mit dem Anwender, führt Diagnosen durch und schlägt Abhilfemaßnahmen vor. Um eine konkrete und auch umsetzbare Hilfestellung leisten zu können, musste es drei Bedingungen erfüllen:
Entwickelt wurde das Expertensystem für eine Kläranlage mit simultaner Denitrifikation und biologischer Phosphatelimination, an die knapp 400.000 EGW angeschlossen sind. Eine Analyse der Situation vor Ort ergab, dass bisher im wesentlichen Probleme mit Schlammabtrieben über die Nachklärbecken und Schwierigkeiten mit der Nitrifikation aufgetreten sind. Das Aufgabengebiet des Expertensystems umfasst sowohl diese bisher beobachteten Probleme als auch weitere denkbare Schwierigkeiten mit den Ablaufwerten bzw. in Verbindung mit diesen. Im Einzelnen sind dies:
1. Diagnosen und Abhilfemaßnahmen bei:
Ablauf Nachklärbecken:
NH4-N erhöht
NO2-N erhöht
N03-N erhöht
P04-P erhöht
Feststoffgehalt erhöht
CSB oder BSB5 erhöht
Säurekapazität gering
2. Wahl der erforderlichen Betriebsparameter (Schlammgehalt im Belebungsbecken, N03-N für Belüftungsregelung) in Abhängigkeit von der Betriebs weise der einzelnen Becken und den aktuellen Randbedingungen vor Ort.
Um eine konkrete Unterstützung geben zu können, verfügt das System sowohl über allgemeine abwassertechnische Inhalte wie auch Fakten und Zusammenhänge spezifisch für diese Kläranlage. Für die quantitative Hilfestellung wurden verschiedene Modelle und Berechnungsalgorithmen eingebunden. Für den Einsatzzweck am geeignetsten erwiesen sich:
Nitrifikations- und Denitrifikationsmodell entsprechend Kayser (1983), Hochschulgruppe (1989), A 131 (1991).
Kohlenstoffabbau: Modifizierter Nitrifikations-/Denitrifikationsansatz.
Nitrifikationshemmung durch NH3 und HN02: Dissoziationsgleichgewichte und Hemmgrenzen entsprechend Anthonisen (1976).
Bilanzen der Säurekapazität.
Einfaches Nachklärbeckenmodell.
Durch eine Auswertung der Daten und Messwerte konnten die Modelle und Berechnungsalgorithmen an die Kläranlage angepaßt werden. Es wurden für die unterschiedlichen Aufgabenstellungen Zulaufwerte gewählt und für verschiedene Parameter interne Grenzwerte für Fehlerdiagnosen und Empfehlungen festgelegt. Die drei wichtigsten und im System sehr häufig verwandten Parameter sind die Sicherheitsfaktoren für die Nitrifikation und den Kohlenstoffabbau wie auch ein Grenz -Schlammvolumen für Schlammabtriebe.
Das System wurde auf einem Personalcomputer unter Verwendung einer Expertensystemshell für den funktionalen "Kern", einer prozeduralen Programmiersprache für aufwendigere Berechnungen wie auch einer speziellen Windows - Bedienungsoberflächensoftware erstellt.
Das entwickelte Expertensystem wird sowohl vom Betriebsingenieur, den Schichtmeistern als auch von den Abwasserfacharbeitern bei auftretenden oder potenziellen Störungen, zum Festlegen der Betriebseinstellungen der Belebungsbecken oder auch zum "Spielen" mit dem System angewandt. Letzteres wird besonders zur Ausbildung der Ver- und Entsorger wie auch zum Anlernen neuen Betriebspersonals genutzt. Das Expertensystem wird sowohl bezüglich der gezogenen Schlüsse, der vorgeschlagenen Werte als auch der Bedienung des Systems akzeptiert und hat sich als nützliches Hilfsmittel für den Betrieb der Kläranlage erwiesen.
Ein offline arbeitendes System wie das hier entwickelte deckt nur einen Teilbereich der möglichen Einsatzgebiete von Expertensystemen ab. Ein weiterer Bereich sind in Echtzeit arbeitende Systeme, die an die online - Daten der Anlage angeschlossen sind. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird die Entwicklung eines solchen Systems dargestellt. Es wird als Überwachungssystem auf einer kommunalen Kläranlage eingesetzt, wo es online- und Laborwerte der Kläranlage auswertet, auf Probleme aufmerksam macht, Diagnosen erstellt und Abhilfemaßnahmen ausgibt. Die Überwachung der Anlage umfasst vier Teile:
Belüftung und Belüftungsregelung anhand verschiedener online - Signale der Belüfter, Messgeräte und anderer Aggregate.
Feststoffgehalt im Ablauf anhand einer online - Trübungssonde im Ablauf der Nachklärbecken.
Rücklaufschlammpumpwerk anhand verschiedener Wassermengen-, Betriebs- und Schiebersignale.
NH4-N - Ablaufwert anhand des etwa alle 2 Tage ermittelten Laborwertes.
Das System wird auf einem PC eingesetzt und umfasst neben allgemein abwassertechnischen Inhalten und sehr viel an kläranlagenspezifischen Zusammenhängen einfache, an die Kläranlage angepasse Berechnungsmodelle und -gleichungen.
An online - Daten angeschlossene Systeme übernehmen mit der Aufnahme und Interpretation der Messwerte, ggf. auch mit Eingriffen in die Prozesse Aufgaben, die bei offline - Systemen vom Betriebspersonal erfüllt werden. Hierfür muss viel zusätzliches Wissen zur Verfügung stehen, was die Entwicklung weitaus zeitaufwendiger gestaltet als bei entsprechenden offline - Systemen. Eine weitere Schwierigkeit ist die Echtzeitfähigkeit, für die in der Abarbeitung der Inhalte für viele Situationen Regelungen gefunden werden müssen, für die in einigen Fällen auch Probleme mit der Rechnergeschwindigkeit auftreten können. Eine dritte Schwierigkeit kann die Akzeptanz des Systems sein, da sie sich bereits mit der Überwachung einen Schritt vom Betriebspersonal abkoppeln und insbesondere mit der Prozessführung Aufgaben des Betreibers übernehmen.
Durch den Anschluss an die online - Daten und die Echtzeitfähigkeit ergeben sich Einsatzmöglichkeiten von Expertensystemen, die sich von denen der offline Systeme unterscheiden, die teilweise auch weit über diese hinausgehen. Neben der automatischen Arbeitsweise wäre auch eine Selbstanpassung an die Gegebenheiten vor Ort möglich. Als sinnvolle Einsatzgebiete wären hier die Prozessleittechnik oder "intelligente" Regler zu nennen.
Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass immer mächtigere Systeme entwickelt und diese auch vor Ort eingesetzt werden. Sie umfassen immer häufiger Modelle, verknüpfen mehr Aspekte und können in steigendem Maße auf Daten der Anlage zugreifen. Die derzeitigen Systeme sind aber immer noch Insellösungen und behandeln jeweils einen sehr begrenzten Teilausschnitt. Sie stellen bereits jetzt sinnvolle Hilfsmittel für den Kläranlagenbetrieb dar, jedoch sind ihre Möglichkeiten bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Dies gilt sowohl für deren Inhalte, Arbeitsweise und Automatisierungsstand als auch deren Flexibilität in Bezug auf ihren Einsatz und ihre Übertragungsmöglichkeiten auf andere Kläranlagen.
Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren die Expertensysteme in steigendem Maße auf Kläranlagen Einzug halten. Sie werden den Menschen in vielen Bereichen unterstützen und ihm eine Reihe Arbeiten abnehmen können. Auch werden sie in der Lage sein Aufgaben zu übernehmen, die bisher nur ansatzweise bewältigt werden können, was insbesondere für den gesamten Bereich der Automatisierung gilt. Nach heutigen Erkenntnissen ist es aber nicht möglich, die Intelligenz des Menschen auch nur annähernd nachzubilden, und diese wird benötigt, um im erforderlichen Maße Entscheidungen treffen zu können. Expertensysteme können und werden wahrscheinlich auch das Arbeitsgebiet des Menschen verändern und prägen. Alle Anzeichen deuten jedoch darauf hin, dass sie ihn nie in seiner Eigenschaft als übergeordnetem Entscheidungsträger ersetzen können.