Im Bereich der Tragwerksplanung widmen sich Bauingenieure der Entwicklung sicherer und wirtschaftlicher Tragwerke durch Entwurf, Berechnung und Bemessung. In Deutschland unterliegt der Bauprozess einer Gliederung in neun aufeinander aufbauende Leistungsphasen. Trotz beschränkter Informationen müssen Tragwerksplaner in frühen Phasen (Vor- und Entwurfsplanung) sichere und wirtschaftliche Entwürfe erstellen, wobei die endgültigen Bauteilabmessungen bereits am Ende der Entwurfsplanung festgelegt werden. Die Vordimensionierung, basierend auf empirischen Tabellenwerken, Computerberechnungen und Ingenieurserfahrung, bildet die Grundlage für die Genehmigungsplanung. Diese Phase beinhaltet detaillierte Computerberechnungen an einem Strukturmodell, deren Ergebnisse den Ausgangspunkt für die Baugenehmigung und die Ausführungsplanung bilden.
Eine Herausforderung des Top-Down-Ansatzes besteht darin, dass planerische Iterationen zwischen den Leistungsphasen nicht vorgesehen sind, was zu ungenutztem Einsparungspotenzial und ungeplanten Anpassungen führen kann. Diese unkoordinierten Anpassungen verursachen Zeitverzögerungen und höhere Kosten. Eine zusätzliche Herausforderung besteht in der finalen Festlegung der Bauteilabmessungen in frühen Entwurfsphasen, da planerische Unsicherheiten aufgrund der Einzigartigkeit jedes Bauwerks schwer abzuschätzen sind. Die Vorbemessung berücksichtigt diese Unsicherheiten oft durch einen höheren Sicherheitsaufschlag, was zu erhöhtem Materialaufwand führen kann.
Praktische Konsequenzen sind die Notwendigkeit, unkoordinierte Anpassungen zu vermeiden und dennoch sicher und materialeffizient zu planen. Gleichzeitig sollten Tragwerksplanern in frühen Entwurfsphasen mehr Informationen zur Verfügung gestellt werden, um einen optimalen Tragwerksentwurf zu erstellen.
Das Verbundforschungsprojekt "Hybride Modellierung für integrierte Berechnung und Bemessung von Tragwerken bei optimierter Materialeffizienz" (HyMoDe) nutzt Synergien aus Forschung und Praxis, um diese Herausforderungen mit Fokus auf den Hochbau anzugehen. Das Ziel ist es, Vorschläge zur Optimierung von Bauteilentwürfen im Kontext des Gesamttragwerks bereitzustellen, um Ingenieure in frühen Planungsphasen zu unterstützen. Dabei werden Methoden der strukturmechanischen und datengetriebenen Modellierung miteinander kombiniert, um im Rahmen geltender physikalischer Gesetze den Planenden zu einem frühen Zeitpunkt gezielt mehr Informationen bereitzustellen. Indem zügig, materialeffiziente Bauteilabmessungen des aktuell geplanten Bauwerks vorgeschlagen werden, soll der Entwurfsprozess in den Leistungsphasen 2 bis 3 beschleunigt und effizienter werden. Eine Adaption der Methode auf bautechnische Prüfprozesse soll ebenfalls möglich gemacht werden. Um dies zu erreichen, werden die Möglichkeiten aktueller Entwicklungen von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen (ML) eingehend untersucht.
Grundgedanke des Ansatzes ist ein modulares, bauteilorientiertes Vorgehen. Für jedes hochbautypische Bauteil (z.B. Balken, Stütze, Platte) wird ein Bauteil-Ersatzmodell erstellt. Dieses Bauteilmodell wiederum beinhaltet ein Struktur-Ersatzmodell zur Simulation des Verformungsverhaltens des jeweiligen Bauteils und die benötigten Bemessungs-Ersatzmodelle zur Berücksichtigung normativer Vorgaben. Der modulare Aufbau ermöglicht die Beurteilung hochbautypischer Gesamttragwerke über eine Kopplungsalgorithmik und bleibt gleichzeitig offen für Erweiterungen. Dies ist insbesondere auf Bemessungsseite relevant, da so Änderungen und Neuerungen des normativen Regelwerks berücksichtigt werden können. Durch die integrierte Beschreibung von Strukturverhalten und Bemessungssituationen soll eine Rückdifferenzierung des gesamten Bauteilmodells ermöglicht werden. Dies ist u.a. für die Anwendung von gradienten-basierten Optimierungsverfahren relevant.
Um die Bauteil-Ersatzmodelle in der Anwendung nutzen zu können, müssen diese vortrainiert werden. Dazu werden Bauteilparameter realer Bauplanungsdaten extrahiert und aufbereitet. Im Anschluss kann jedem Bauteil seine Eigenschaften und jeder Eigenschaft eine diskrete Verteilung zugeordnet werden. Diese reale Verteilung von Bauteileigenschaften definiert den Trainingsbereich der Strukturersatzmodelle innerhalb deren das Verformungsverhalten des Bauteils erlernt werden soll. In der Online-Phase können die Struktur- und Bemessungsmodelle iterativ ausgewertet werden, sodass eine Kosten-Zielfunktion optimiert wird. Dabei wird unterschieden zwischen Optimierungsparameter (z.B. Breite und Höhe des Querschnitts) und Fixparameter (z.B. Randbedingungen und Bemessungslast). Durch ein anschließendes Post-Processing sollen den planenden Ingenieuren nicht nur diskrete Werte vorgeschlagen werden, sondern Intervalle von optimierten Parametern, aus denen der Planer für seinen individuellen Entwurf eigenständig wählen kann.