‚Schreib doch etwas über Island.’ Das hatte ich mir vorgenommen und daran hat mich Christian Frey vor kurzem auch noch einmal erinnert. Worüber aber sollte ich schreiben? Das Semester beginnt erst Anfang September, somit scheidet ein Bericht über Studium, Studenten, Dozenten und das Leben an der Uni weitgehend aus. Auch der Sprachkurs, an dem unter vielen anderen Exchange-Students aus allen Ecken der Welt, vor allem aber Europas, auch ich teilnehme, ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass ich ein zutreffendes Gesamtbild zeichnen könnte. Ich muss also ein anderes Thema heranziehen. Was nun läge näher, als meine ganz persönlichen ersten Eindrücke zu schildern und auf die Frage einzugehen, wie man sich Island vorzustellen hat?
Denkt man an Island, fallen einem neben all den Geschichten um Wikinger, Fischereigrenzen, Islandpferde und Wale vor allem zwei Dinge ein:
1. Island ist kalt.
2. Island ist teuer.
Beschäftigt man sich dann aus der Ferne etwas näher mit der Insel, so erfährt man schon einiges Erstaunliches. Zunächst ist festzuhalten, dass die Isländer über eine eigenständige Sprache verfügen, woran auch eine lange Fremdherrschaft nichts geändert hat. Außerdem sind sie recht stolz auf ihre Eigenständigkeit. Schließlich wird man noch auf die Fortschrittlichkeit im Bereich der Telekommunikation stoßen. Mit solchen und einigen anderen Informationen gerüstet startete ich also in den Aufenthalt auf der Insel im Nordatlantik – und erlebte nicht wenige Überraschungen. Einige davon waren auf mangelnde Verarbeitung vorhandener Informationen meinerseits zurückzuführen, andere auf das schlichte Fehlen von Informationen.
Bei meiner Ankunft hier am 29. Juli um kurz nach elf Uhr Abends konnte ich zunächst feststellen, dass die Sonne noch schien. Jedenfalls bis zu Beginn des Landeanflugs und dem damit verbundenen Unterschreiten der Wolkengrenze. Unterhalb besagter Wolken regnete es nämlich ununterbrochen. Auch an den folgenden Tagen war Regen ein regelmäßiger Begleiter, mal goss es wie aus Eimern, mal nieselte es angesichts fortgesetzten Sonnenscheins beinahe unmerklich aus vorüberziehenden vereinzelten Wolken.
‚Dir gefällt das isländische Wetter nicht? Dann warte bitte fünf Minuten.’ So lautet angeblich ein altes isländisches Sprichwort. Oft trifft es auch zu. Oft, aber eben nicht immer. Heute ist Sonnabend der 14. August 2004 – und der vierte Tag einer Hitzewelle, die Island gerade erlebt. Am Mittwoch kletterte das Thermometer in Reykjavik auf über 24° Celsius. Der wärmste Tag seit Aufzeichnungsbeginn, wie man mir sagte. Der nächste Tag brachte dann, so sagte man mir (ich habe leider kein Thermometer dabei um dies selbst zu prüfen), über 27°. Schon wieder Rekord. Der gestrige Tag begann dann genauso wie seine beiden Vorgänger, endete allerdings mit einer düsteren Wolkendecke. Und heute? Ich sitze in T-Shirt und kurzer Hose im Garten, während ich dies hier tippe. Da die Temperaturen aber durchaus zu anderen Betätigungen einladen, beende ich dieses Kapitel hiermit.
Nachdem ich in meinem vorigen Bericht vom sommerlichen Wetter hier in Reykjavik berichtet habe und selbiges noch am Abend gleich wieder verschwand, möchte ich zu diesem Thema jetzt lieber schweigen. Stattdessen werde ich ein paar irgendwie heimisch wirkende Eindrücke wiedergeben, die Reykjavik und das Leben in der isländischen Hauptstadt in diesen ersten Wochen bei mir hinterlassen haben.
Auf der Fahrt vom internationalen Flughafen in Keflavik (sprich: Keplawiek) nach Reykjavik hatte ich zunächst den Eindruck, in einer Ecke der Welt zu sein, in der kaum irgendetwas wie 'daheim' sein könnte. Der Bus wurde von Windböen hin und her geschaukelt, der Regen wurde derart gegen die Scheiben gedrückt, dass man kaum einmal einen Blick nach draußen werfen konnte – und wenn das doch gelang sah man weite, schwarze Geröllwüsten wohin man auch blickte. Dann aber spielte der Radiosender, den der Busfahrer gewählt hatte, die auch bei uns bekannten amerikanischen Rock- und Pop-Stücke der letzten 40 Jahre – grob geschätzt. Von da an begann ich darauf zu achten, ob sich nicht noch mehr Ähnlichkeiten finden lassen würden.
Und tatsächlich entdeckte ich einige. Beispielsweise im Straßenverkehr. Am ersten Wochenende hier hatte ich zunächst den Eindruck, hier wäre alles viel gelassener, die Straßen frei und die Kraftfahrer und –innen entspannter. Das aber lag schlicht und einfach daran, dass das Wochenende von einem Feiertag gekrönt wurde und sich im Grunde kein einziger Einheimischer in der Stadt aufhielt. Schon in der nächsten Woche konnte ich mehrmals beobachten, wie abbiegende Autofahrer dezent akustisch darauf hingewiesen wurden, dass eine Lücke im Gegenverkehr sicher groß genug oder die Ampel bereits umgesprungen sei. Ganz wie zu Hause. Nur, dass ich die Szene hier nicht gestresst im Auto sondern schmunzelnd am Straßenrand erleben durfte.
Aber es ist natürlich nicht nur der Straßenverkehr, der an zu Hause erinnert. Bei einem Spaziergang im botanischen Garten der Stadt zum Beispiel, wurde ich von zwei Herren in Anzug angesprochen. Sie schienen meinen sehr entspannten Gesichtsausdruck (ich pausierte gerade auf einer Bank in der Sonne) wahrscheinlich für einen gelangweilten gehalten zu haben und wollten mir aus dieser Misere helfen. Also boten sie mir kostenlos und beinahe unverbindlich eine Zeitschrift namens ‚Watchtower’ an. Ich lehnte dankend ab. Ganz wie zu Hause.
Schließlich möchte ich noch etwas erwähnen, dass hier in Island um keinen Deut anders ist als bei uns in Deutschland: Meine Handschrift. Die Menschen weigern sich, meine von Hand verfassten Texte korrekt zu verstehen. Das führt nicht nur zu Korrekturen bei Hausaufgaben im Sprachkurs, sondern auch dazu, dass ich nicht länger aus Braunschweig stamme. Meine Heimatstadt laut den hiesigen Behörden ist Braundsweg. Gut das zu wissen. Ich schließe also mit der Hoffnung, dass diese Zeilen hier dem Leser weniger Interpretationsspielraum aufbürden.
Nachdem ich in meinen ersten Wochen hier nicht wesentlich mehr von Island gesehen hatte als seine Hauptstadt und deren direkte Umgebung, reizte es mich doch sehr, etwas mehr von dem Land, von seiner Natur zu sehen. So machte ich mich also mit ein paar Gleichgesinnten für ein Wochenende auf den Weg in den Norden des Landes. Bis dahin wusste ich nur wenig über diese Ecke Islands. Aus meinem Reiseführer hatte ich erfahren, dass es dort einige sehenswerte Wasserfälle gibt und die Isländer, mit denen ich mich unterhalten habe, erklärten mir immer wieder, dass das Wetter im Norden im Allgemeinen besser sei als im Süden. Speziell dieser Punkt war doch recht ansprechend, denn am Morgen unseres Aufbruchs aus Reykjavik regnete es in Strömen.
Wirklich besser wurde das Wetter dann allerdings auf unserem Weg in den Norden nicht. Zumindest aber blieb es ‚isländisch’, also wechselhaft, und zwischen den Regenphasen blieb uns oft genügend Zeit, das Auto für eine kleine ‚Sightseeing-Tour’ zu verlassen. Einen Grund für eine solche nähere Betrachtung der Umgebung fanden wir dabei oft genug.
Hat man erst einmal das Besiedlungszentrum im Südwesten hinter sich gelassen, findet man nur selten wirkliche Ortschaften. Entlang der Ringstraße sieht man vielmehr vereinzelte Gehöfte, oft auch mit eigener kleiner Kirche, inmitten einer weiten Landschaft, die von grünbraunen Tälern und schroffen Bergen dominiert wird. Dabei wurde die Gegend immer beeindruckender, als wir uns unserem Ziel, dem Mývatn-Gebiet, näherten. So war der Abend schon hereingebrochen, als wir den ersten großen Wasserfall erreichten: den Gođafoss. Über eine zehn Meter hohe (oder eher tiefe?) Stufe stürzen hier nicht geringe Wassermassen in einem weiten Halbrund hinab. Dabei teilen zwei Landbrücken das Wasser in zwei breite äußere und einen kleinen inneren Wasserfall. Ich jedenfalls war sehr beeindruckt. Nach diesem Tag der Fahrt durch weite Fjordlandschaften, schmale Täler, vorbei an Lavawüsten und grasbestandenen Ebenen, rief der Anblick dieses Wasserfalls einen Gedanken in mein Bewusstsein, der zwar etwas übertrieben scheint, sich aber angesichts derartiger Schauspiele schon einmal bemerkbar machen darf. Für einen kurzen Moment dachte ich also bei mir: ‚Jetzt habe ich alles gesehen.’
Tatsächlich war die Weiterfahrt recht unspektakulär, was vor allem auch daran lag, dass es schnell dunkel wurde. Der nächste Tag begann dann am Ufer des Mývatn, also des ‚Mückenwassers’, eines großen Sees und beliebten Touristenziels. Von dort fuhren wir in Richtung Westen, auf eine kleinere, von Rot- und Gelbtönen geprägte und völlig leblos wirkende Bergkette zu. Von der Passhöhe blickten wir dann auf eine Ebene, deren weit über 50 Kilometer entfernt liegendes Ende von einer weiteren Bergkette begrenzt wurde – und die tiefschwarz unter dem blauen Himmel lag. Bevor wir aber der Straße in die dunkle Weite folgten, stoppten wir am Fuß der rötlichen Berge in einem Solfatargebiet voller brodelnder Schlammlöcher, dampfender Felsen und lebloser Erde. Und als ich dort inmitten des erdrückenden Schwefelgeruchs der zischenden Dampfwolken stand, schob sich schon wieder dieser offensiv-endgültige Erlebnisqualifikationsgedanke in mein Bewusstsein: ‚Jetzt habe ich alles gesehen.’ Obwohl ich mir im Nachhinein nicht mehr sicher bin, ob er nicht eher ‚Jetzt habe ich alles gerochen’ lautete. Da wir jedenfalls genug gerochen hatten, setzten wir unsere Fahrt fort.
Das nächste Ziel war der größte Wasserfall Europas (laut Reiseführer zumindest) – der Dettifoss. Der Weg dorthin führt durch die bereits erwähnte schwarze Ebene, in der sich bei näherer Betrachtung allerdings einiges an Bodenbewuchs und auch hin und wieder eine Gruppe Schafe fand. Nach über vierzig Kilometern zweigt dann von der Ringstraße eine Schotterpiste in Richtung Norden ab. Nach einer halbstündigen Rüttelpartie zeichnete sich dann die Schlucht ab, die von dem durch die Ebene fließenden ‚Jökulsá á Fjöllum’ in das weichere Gestein geschliffen wurde, und bald darauf sahen wir die über der Schlucht wabernde Gischtwolke des Dettifoss. Dieser ist nur einer von vier Wasserfällen in besagter Schlucht, aber – wie bereits erwähnt – der größte. In einer einzigen Stufe stürzt sich das Wasser 44 Meter zwischen den Felswänden hinab, die Luft ist von schwebenden Wassertropfen erfüllt, die sich am Gestein beiderseits des Dettifoss niederschlagen und in unzähligen Kleinstwasserfällen hinabrinnen. Dreht dann der Wind kann man den Eindruck erhalten in einem plötzlichen Regenguss zu stehen, und über all dem dröhnt das fallende Wasser so laut, dass ich den schon bekannten Gedanken diesmal beinahe überhört hätte: ‚Jetzt habe ich alles gesehen.’
Mir war klar, dass ich diesen Gedanken, so abstrus es auch sei, nicht das letzte Mal gedacht haben würde, als wir bereits wieder in unseren Autos saßen und auf Vulkankrater und bizarre Lavaformationen zusteuerten.
Eigentlich sollte dieser Bericht anders beginnen, als es jetzt der Fall ist. Kaum hatte ich aber die ersten Zeilen getippt, als mir auffiel, dass ich bereits zwei von drei Berichten mit dem Wörtchen ‚nachdem’ begonnen hatte. Das konnte so nicht weitergehen – darum hier also ein etwas unkonventioneller Anfang – und das am Beginn von Part II meines Islandberichtes. Denn wie schon im letzten Bericht geschildert, hatten sich meine Erwartungen gegenüber dem Land endlich den Realitäten angepasst. Nicht, dass ich nicht mehr überrascht werden würde, im Gegenteil. Aber Überraschungen sind praktisch zur Erwartungshaltung geworden. Von daher hier nun also ein erster Bericht über ‚Land und Leute’.
Als Austauschstudent hat man hier in Reykjavik – wie wahrscheinlich an den meisten Gastuniversitäten – ein äußerst unterhaltsames Rahmenprogramm zur Verfügung, mit dessen Hilfe man Land und Leute kennen lernen kann und soll. Dazu gehören Kostproben isländischer Küche – und ich darf an dieser Stelle mitteilen, dass ich zum ersten Mal wirklich Gefallen an Schokolade mit Minzfüllung gefunden habe – und, völlig klar, Ausflüge. Bei diesen wird dem Gast des Landes einiges geboten, begonnen mit einem Strandspaziergang über das beliebte ‚Whale Watching’ bis hin zu ganztägigen Touren zu touristischen Attraktionen, wie zum Beispiel dem Nationalpark Þingvellir. Diese Ebene ist für Island und die Isländer von herausragender Bedeutung, tagte hier doch in den Zeiten der ersten Siedler die Versammlung der gođar und damit gewissermaßen das Parlament. Und auch später war die Ebene immer wieder Kristallisationspunkt isländischen Nationalbewusstseins, zuletzt bei der Feier zum fünfzigjährigen Bestehen der Republik Island 1994, als tausende Isländer in der Ebene zusammenströmten. Ganz wie in alten Tagen. Vielleicht mit dem Unterschied, dass nicht alle ankamen und statt einer großen Feier im Freien einen ganzen Abend im Auto verbrachten. Was wohl auch für einige der Darsteller der dargebotenen Vorführungen galt. Doch dies nur am Rande.
Aber auch für Nicht-Isländer ist Þingvellir ein eindrucksvoller Ort – denn die Ebene liegt auf der Bruchstelle zwischen der Amerikanischen und der Eurasischen Kontinentalplatte und bietet somit neben dem faszinierenden Anblick der gewaltigen Spalten und Risse gewissermaßen die Möglichkeit, von Europa nach Amerika zu gelangen. Trockenen Fußes und ohne Zoll oder biometrische Daten im Ausweis. Und wie auch anderswo in Island kann man hier einen Wasserfall bestaunen. Dieser ist allerdings im Unterschied zu den meisten Wasserfällen nicht natürlichen Ursprungs. Die Wikinger nämlich, die einst Island besiedelten und in Þingvellir ihre Versammlungen abhielten, benötigten natürlich Wasser – zum Trinken, Kochen, Waschen. Da sie aber allem Anschein nach – verständlicherweise möchte man meinen – nicht bis zum Fluss auf dem ‚amerikanischen’ Plateau klettern wollten wann immer sie Wasser benötigten, beschlossen sie, sich eines alten Sprichwortes zu bedienen: ‚Wenn der Wikinger nicht zum Fluss will, muss der Fluss eben zum Wikinger kommen’ – oder so ähnlich. Auf jeden Fall wurde der Fluss, so erfährt man von seinen isländischen Reiseleitern, umgeleitet und stürzt seitdem von der westlichen Steilwand hinab in die Ebene, um sich dort nach wenigen Windungen in den größten See Islands, Þingvallavatn, zu ergießen. Ob man hieraus schließen darf, dass schon für den Wikinger Wasser nicht gleich Wasser, und fließendes solches eine Selbstverständlichkeit war?
Wahrscheinlich nicht. Ich werde dennoch darüber nachsinnen, bevor ich von weiteren Wasserfällen erzähle. Und vielleicht auch noch von Schafen.
Wie man leicht anhand des ersten Teils des Kapitelnamens erkennt ist dieses Kapitel hier mit dem vorigen in besonderer Weise verbunden, denn es handelt ebenso wie jenes von vom International Office organisierten Ausflügen. Damit es aber nicht langweilig wird, lockere ich diese Erzählung gleich zu Beginn mit einer Anmerkung zum isländischen Genussmittelmarkt auf, gewissermaßen parallel zu meiner Erwähnung der minzgefüllten Schokolade im letzten Kapitel. An einem der letzten Wochenenden hatte ich nämlich die Gelegenheit, eine der berühmt-berüchtigten Spezialitäten der Insel zu kosten – und zu riechen. Wobei ich aber anmerken möchte, dass entgegen der mir zuvor zugetragenen Berichte der Geruch des ‚rotten shark’ so schlimm gar nicht war. Diese im Deutschen (laut Reiseführer) appetitlich ‚Fermentierter Haifisch’ genannte Spezialität, heißt im Isländischen schlicht ‚hákarl’, also ‚Hai’ und ist auch genau das. Hai, der für einige Wochen vergraben wird bis er vergoren ist, dann an der Luft gelagert wird um zu reifen und schließlich in kleinen Stückchen serviert wird. Immer wieder wird man als Tourist die Information bekommen, dass der Geruch grässlich sei, es den Einheimischen aber augenscheinlich schmecke und man die Köstlichkeit nur mit Branntwein herunter bekäme. Nach Selbstversuch und einigen Beobachtungen möchte ich hier korrigierend anmerken: Der Geruch ist tatsächlich reichlich intensiv. Branntwein braucht es aber nicht zwingend für den Verzehr des Hais. Dessen Geschmack oder besser Konsistenz allerdings war mir persönlich weit unangenehmer als der Geruch – was wohl vor allem daran lag, dass ich ein sehr knorpeliges Stückchen hatte. Und ich habe durchaus auch Isländer gesehen, die vor der Spezialität schreiend das Weite suchten.
Das Weite suchten übrigens auch, und damit komme ich zum Sightseeing-Part des Kapitels, die Schafe beim Sortieren im Rahmen des Schafabtriebs. Die isländischen Schafe verbringen nämlich den Sommer freilaufend in den Bergen, werden dann im September von Reitergruppen zusammengesammelt und schließlich in spezielle Mauerringe getrieben, von denen seitlich kleine Kammern abgehen. Die Schafe werden dann aus dem großen zentralen Bereich in die einzelnen Farmen zugeordneten Nebenparzellen sortiert – was ihnen verständlicherweise nicht immer behagt. So wird sich der Besucher, der sich mitten unter die Schafe und Farmer begibt, bei diesem Ereignis sicherlich das ein oder andere Mal mit einer Schaf- Stampede konfrontiert sehen. Ein bemerkenswertes Ereignis ist es allemal, zudem tief in der isländischen Kultur verankert, so dass die Farmer es trotz des längst hinter den Kosten zurückgefallenen Nutzens weiterführen, da es nicht nur eine Erinnerung an die guten alten Zeiten sondern auch eine Gelegenheit für zünftige Feste bietet.
Einem solchen Ereignis konnten wir als Gaststudenten also im Rahmen eines Ausfluges beiwohnen. Und natürlich zeigte man uns neben diesem sehr islandtypischen Geschehen auch die typischen touristischen Sehenswürdigkeiten der Insel: den ‚Golden Circle’. Hierbei handelt es sich um drei Naturspektakel, die man im Rahmen einer Rundfahrt bequem an einem Tag von Reykjavik aus besuchen kann. Þingvellir hatte ich ja bereits erwähnt – und den Gullfoss, einen sehr malerischen Wasserfall, angekündigt. Der dritte Bestandteil der beliebten Rundfahrt ist das Geysir-Gebiet. Hier befindet sich neben einigen heißen Quellen auch der Namenspatron aller Springquellen, der große Geysir. Diesen wird man aber kaum in Aktion erleben können, obwohl er nach einer langen Zeit der beinahe vollständigen Inaktivität dank einiger tektonischer Veränderungen inzwischen wieder ein wenig häufiger aktiv wird. Den etwas kleineren Strokkur dagegen wird man schwerlich übersehen, da aus diesem Springquell alle paar Minuten eine bis zu dreißig Meter hohe Wassersäule emporschießt.
Besichtigt man die Springquellen zur richtigen Jahreszeit hat man übrigens auch die Gelegenheit in dem hügeligen Gebiet Blaubeeren zu sammeln. Diese sind wie ich meinen möchte eine der Leckereien der Insel, die tatsächlich Isländer und Touristen gleichermaßen schmackhaft finden.
Langsam aber sicher ist der Winter über Island hereingebrochen. Nachdem es vereinzelt schon vor Wochen geschneit hatte und insbesondere die Berge, deren Gipfel von der Stadt aus zu sehen sind, inzwischen in relativ dauerhaftes weiß getaucht sind, hatten wir auch hier in Reykjavik in der zweiten Novemberwoche den ersten dauerhafteren Schnee und Temperaturen die bis auf 12° C fielen. Minus 12° C, um genau zu sein. Inzwischen allerdings liegt die durchschnittliche Tagestemperatur wieder bei ein paar Grad über Null, der Schnee ist weitgehend gewichen und nach einigen trockenen Tagen nun vom Regen endgültig hinweggespült worden. Und während man als Besucher in warme Jacken gehüllt durch die weihnachtlich geschmückten Straßen der Stadt schlendert fallen einem immer wieder die Isländer auf, genauer gesagt, ihre Art mit dem Wetter umzugehen.
Bereits in den ersten Tagen hier lernt man zwangsläufig, mit dem Regen zu leben. Man hat schlicht und einfach kaum Möglichkeiten, etwas gegen ihn zu unternehmen. Regenschirme sind schon bei durchschnittlichen Windstärken nicht zu gebrauchen – weswegen man solche auch nur selten zu Gesicht bekommt. Spätestens aber wenn der Wind das Wasser parallel zum Boden durch die Stadt peitscht und die Nässe von unten her unter die Regenjacken klettert, erkennt man, dass man keine andere Wahl hat, als den Regen zu akzeptieren. Ist man dann erst einmal eine Weile hier, wird man anfangen, den ‚normalen’ Regen, also denjenigen, der zumindest annähernd von oben herabfällt, als angenehm zu schätzen – schließlich bedeutet ein solcher Regenschauer, dass der Wind sich gerade ruhig verhält.
Sicherlich wird man sich bei diesem Gewöhnungsprozess zumindest einen leichten Schnupfen, im Normalfall aber doch eher eine zünftige Erkältung zuziehen. Dies zumindest ist die Erwartung, die ein Dozent an der Universität seinem Kurs aus Austauschstudenten gegenüber zum Ausdruck brachte – kombiniert mit dem Versprechen, dass man mit dieser Erkältung dann den halben Weg zum Dasein als Isländer hinter sich gebracht habe. Hierüber mag man denken wie man möchte, tatsächlich aber ist eine entspanntere Haltung dem Wetter gegenüber unter den nun ‚halben Isländern’ nicht zu verneinen. Mit dem Regen, wie bereits erwähnt, findet man sich recht schnell ab. Und auch Schnee und Straßenglätte begegnet man schon bald mit einer eher lockeren Einstellung. Man geht schlicht und einfach langsamer – oder bemüht sich so weite Strecken wie irgend möglich über beheizte Gehwege zurückzulegen – den Beobachtungen im Sommer nach zu schließen eine Bequemlichkeit, die sich die Isländer auch für die eigenen Einfahrten anzuschaffen beginnen. Und wenn man dann also in seiner warmen Winterkleidung eine solche von jeglicher Glätte befreite Ecke der Straße erreicht hat und seine Aufmerksamkeit wieder stärker seinen Mitmenschen als der Bodenbeschaffenheit zuwenden kann, dann wird man unweigerlich die tatsächlichen Isländer erkennen.
Ich möchte hiermit keinesfalls behaupten, dass alle Isländer kurz berockt oder im modisch halboffenen Hemd über T-Shirt durch Reykjaviks Novembernächte ziehen. Einige aber praktizieren dies – und geschlossene Mäntel oder gar zugezogene Kapuzen habe ich selbst bei Schneefall nur selten gesehen. Und wenn, dann befand sich unter der Kapuze meist ein Besucher der Insel. Wahrscheinlich ist der Weg zum Isländer doch ein wenig weiter als ein paar Tassen heißen Tees oder einige Packungen Taschentücher.
Im ersten Teil meines Berichtes von Island habe ich aufgezählt, was ‚man’ so über Island weiß, ohne vor Ort gewesen zu sein, Informationen, die bei einer ersten Recherche ans Licht kommen. Was ich dabei nicht erwähnt habe – aber wohl kaum ein Isländer unerwähnt gelassen hätte – sind die mittelalterlichen Texte. Die Sagas und später auch die Volkserzählungen, verfasst in der isländischen Sprache und somit auch Bestandteil des Überlebens dieser seit dem Mittelalter, haben für die Isländer eine hohe kulturelle Bedeutung. Nicht nur wegen ihres Inhaltes, sondern auch, weil sie für Islands ‚goldene Zeit’ stehen, vor dem Verlust der Unabhängigkeit an Norwegen und später Dänemark. Als diese Texte, die, gewissermaßen im Zuge dieses Verlustes, nach Dänemark gegangen waren, nach der Unabhängigkeit nun nach Island zurückgeholt wurden, war dies für die Isländer ein großer – nationaler – Triumph. Die Menschen feierten die Rückkehr der mittelalterlichen Texte geradezu und heute ist ihnen eine Ausstellung gewidmet, in der man einiges über ihren Werdegang erfahren kann. Aber auch ein Institut an der Universität ist nach einem Sammler der alten Texte benannt, Straßen in Reykjavik heißen nach Figuren der alten Sagas. Und in den Schulen werden die alten Texte gelesen. Die Kenntnis dieser Texte, der isländischen Vergangenheit, wird von vielen Isländern als enorm wichtig für das Dasein als Isländer empfunden, wie man in Umfragen erfahren kann. Als ich dies alles zum ersten Mal mitbekam wähnte ich mich im Schlaraffenland der Historiker: eine ganze Nation voller Menschen die ihre Geschichte als ein Gebiet von zentraler Bedeutung erachten? Tatsächlich ist an diesem ersten Eindruck viel Wahres dran. Natürlich ist es auch eine Frage der Generationen. Interessanterweise auch eine des Nationalismus, der hier sehr ausgeprägt ist. Da entfernt sich dann auch das Interesse an der Geschichte vom Interesse an der wissenschaftlichen Geschichte. Aber immerhin wird diese hier auch mit Eifer betrieben, von der Archäologie ganz zu schweigen.
Doch Geschichte ist bei weitem nicht das einzige Gebiet der Wissenschaft, das auf Island vorangetrieben wird. Tatsächlich sind es viele mehr – Bildung allgemein wird als enorm wichtig angesehen. Wieder sah ich, der ich Kürzungen im Bildungshaushalt im Hinterkopf hatte, mich geradezu paradiesischen Zuständen gegenüber. Gut, einige Gebäude der Universität wirken eher trist und grau. Aber dies war die isländische Architektur dieser Zeit. Schon beim Anmelden als Student kam es zu Problemen und langen Wartezeiten. Aber technische Probleme gibt es überall – und Dinge auf den letzten Drücker zu erledigen ist, wie ich erfuhr, typisch isländisch. Immer gemäß dem Motto ‚das wird schon’. Und dann waren die Uni-Gebäude im Inneren ja auch wesentlich angenehmer als von außen. Die Hörsäle modern, gepolsterte Stühle, Netzwerkzugang und Stromanschluss am Platz, Funknetzwerke überall, moderne Rechnerpools und – sehr wichtig – gut beheizte Räume. Und die Bibliothek! Umgeben von einem Wassergraben als die einzige Burg Islands, wie nicht nur einige Studenten scherzten. Sinngemäß: ‚Unsere einzige Burg – und wir errichteten sie um Bücher.’ Da war sie wieder, die Begeisterung für Bildung und Wissen an sich. Im Inneren der Bibliothek ebenfalls moderne Arbeitsplätze, Internetzugang – und gepolsterte Liegen für erholsamstes Lesen (oder ein Schläfchen zwischendurch, ich will ehrlich sein). Traumhaft.
Dann allerdings fielen einem irgendwann sehr viele Kinder auf, die an Vormittagen in der Stadt unterwegs waren. Sollten die nicht in der Schule sein? Ja, sollten sie. Aber die Lehrer, chronisch unterbezahlt vom Staat, streikten. Über viele Wochen. Nicht unüblich, wie man erfahren konnte. Und schließlich begann man, Bücher, die man brauchte, nicht zu finden. Gerade in Benutzung. Das einzige Exemplar. Gut, das kommt vor. Problematisch wurde es auch, wenn man ein Thema bearbeitete, dass zufällig nichts mit Island zu tun hat. Da wird die Luft schnell dünn, Bücher selten. Schließlich machte ich die Probe aufs Exempel und suchte über den elektronischen Katalog der Bibliotheken – er beinhaltet scheinbar sämtliche Bibliotheken des Landes – einen meiner Lieblingsautoren. Einen recht bekannten Autor und Pulitzerpreisgewinner. Nicht vorhanden. Keines der Bücher. Im ganzen Land nicht? Das Traumland war doch nicht ganz so traumhaft, wie es zunächst schien. Am Geld scheitert auch hier einiges. Ein Dozent formulierte in etwa so: ‚Die Isländer halten sehr viel von Bildung – aber sie wollen nicht viel dafür bezahlen.’
Alles nur gute Vorsätze also – nicht so viel anders als daheim. Oder doch? Ein befreundeter Student suchte Bücher für ein etwas abseitiges Thema. Die gab es nicht in den ‚normalen’ Bibliotheken. Schließlich aber fand er sie doch. In der Bibliothek des Außenministeriums. Nach einer eintägigen Vorwarnfrist konnte er diese benutzen. Und einen Internetzugang gab es dort auch.
Dieses Kapitel, ursprünglich als abschließendes konzipiert, ist, bedingt durch den Sonderbericht zu den Feiertagen, zwar nicht mehr das letzte in der Nummerierung – dennoch ist es das letzte, das ich schreibe. Nun, nach dem Ende der kurzen Weihnachtsferien, die hier im isländischen Winter die Semester trennen sind alle Kurse beendet, die Arbeiten geschrieben und abgegeben. Zeit also für einen Rückblick über das Studieren hier in Island als solches.
Dass die Rahmenbedingungen dieses Studiums gerade zu Beginn einen gewissen Eindruck von ‚besserer Welt’ auf mich machten, habe ich ja bereits im letzten Kapitel geschildert. Nachdem dann anfängliche Probleme überwunden waren, loggte ich mich zum ersten Mal in das hiesige Uni-Netz ein – und kam aus dem Staunen kaum heraus. Das komplette Vorlesungsverzeichnis, Raum- und Stundenpläne, alles vor Beginn des Semesters online, etwas umständlicher zwar wenn man auf englische Versionen angewiesen ist, aber auch in diesem Falle immerhin irgendwie vorhanden. Jeder Kurs hat eine Homepage, auf der alle Teilnehmer wie auch der Dozent Dokumente hinterlegen, Webseiten verlinken, Gedanken austauschen können. Jeder Student findet in seinem Web-Account seinen persönlichen Stundenplan und auf seine Kurse zugeschnittene Nachrichten und Kalenderfunktion. Seine Prüfungsergebnisse kann man sich per Kurznachricht zuschicken lassen. Eine ADSL-Flatrate auf Uni-Kosten? Eine Frage von drei Mausklicks.
Und die Kurse? Ich habe in die undergraduate- wie auch die graduate-Kurse hineingeschnuppert. Zunächst allerdings ohne den Unterschied wirklich bewusst wahrzunehmen – ähnliches überwog: Vorab verfügbare sehr vollständige Materialien, massiver Einsatz neuester Medien. Präsentationen fand man nach der Veranstaltung auf der Kurs-Homepage. Die Kurse waren interessant, die Dozenten lebhaft und hilfsbereit, das Englisch gut verständlich. Bald stellte sich heraus, dass die Lehrweise zwischen den beiden Kursstufen stark differierte. In den undergraduate-Kursen war das Tempo zwar hoch, aber die erwarteten Leistungen von Anfang an klar. Lesen sie Buch X bis zur Sitzung Y. Überhaupt ein sehr hohes Lesepensum, und auch die Veranstaltungen gut gefüllt. Ein Dozent hing in der dritten Sitzung bereits um die Hälfte der zweiten hinterher. Verschleppt wurde dieser Rückstand jedoch nicht – das Tempo wurde an-, die Sitzungszeit überzogen. Zu Beginn der vierten Sitzung waren wir wieder im Plan. Lernerfolg wurde durch verschiedene Leistungsnachweise überprüft, zu erbringen waren Hausarbeit, Klausur, mündlicher Prüfung, Interview – und natürlich Beteiligung (nun gut, Anwesenheit). Kurse gern vierstündig. Alles in allem also ein hohes Tempo und ein solider Arbeitsaufwand mit dem Ziel des Erfassens und Wiedergebens von Inhalten; In meinen Augen leider manchmal ein wenig arg kleinschrittig. Auch hätte ich mir in einigen Fällen weitergehende Behandlungen einzelner Aspekte gewünscht, oder die Zeit, um dies selbst zu tun – aber der Zeitplan war meist eng und das Zeitfenster für die Hausarbeiten ebenfalls recht klein, da diese im laufenden Semester geschrieben werden mussten – neben den sonstigen ‚Hausaufgaben’.
Ganz anders dann die Herangehensweise in den graduate-Kursen. Dort war der Zeitplan weniger streng, intensiveres Erarbeiten der Themen wurde erwartet und ermöglicht. Leistungsnachweise über Hausarbeit und Referat, Beteiligung in den Diskussionen. Das Zeitfenster für die Hausarbeiten war hier großzügiger bemessen (man stieß sogar eher an die Grenzen der im Land verfügbaren Literatur als an die der Zeit).
Was bleibt also festzuhalten über das Studium in Island? Vor allem wohl zwei Dinge: Der Unterschied im Level der Veranstaltungen schlägt sich sehr konkret in der Methodik wieder. Darüber sollte man sich klar sein, wenn man sich daran macht, seine Kurse für ein Semester hier auszusuchen, da man als Austauschstudent relativ problemlos Kurse beider Level belegen kann. Weiterhin sollte man sich darüber klar sein, dass die Literaturlage zu bestimmten Themen gut ist - zu vielen jedoch eher dürftig. Vor der Themenwahl also am besten die Bibliotheksbestände prüfen. Und – natürlich, möchte man sagen – gibt es immer solche und solche Kurse, je nach Thema, Dozent, Termin, Teilnehmern. Im Endeffekt hat man den Aufwand, den man betreibt, selbst in der Hand – hier wie auch ‚zu Hause’.
Generell gilt, das ist noch zu betonen – und nicht nur im Studium, sondern in jedem Lebensbereich in den ich hier hereinschnuppern konnte: Die Isländer sind sehr hilfsbereit und im Zweifelsfall unbürokratisch. Bei Problemen erhält man schnell Hilfe, wenn man nur fragt. Dumme Fragen gibt es nicht. Ein Satz, den ich zu Beginn meines Studiums gleich mehrfach hörte. Hier, wie auch schon in Braunschweig.
Gleđilegt ár – oder, zu deutsch, ein frohes neues Jahr, wünsche ich allen Lesern dieser Zeilen in diesem, etwas außerplanmäßigen Teil meines Berichts aus Island.
Außerplanmäßig deshalb, weil ich eigentlich nicht vorhatte, einen Bericht über die Feiertage und die damit zusammenhängenden Bräuche hier in Island zu verfassen – obwohl ich ja von Beginn an vorhatte, mir eben diese hier einmal anzusehen. Nun habe ich sie gesehen und beschlossen, doch ein paar Worte dazu zu schreiben.
„Frohe Weihnachten“ heißt im Isländischen „gleđileg jól“ – und die weihnachtliche Stimmung beginnt, wie auch in Deutschland, mit der Adventszeit. Zumindest planmäßig, denn in dieser Zeit wurde die gesamte Stadt mit Lichterschmuck überreichlich ausstaffiert. In den Wochen vor Heiligabend nimmt dann auch die festliche Beleuchtung der Privathäuser zu – und als ich an den Weihnachtsfeiertagen durch den Hafen spazierte stellte ich fest, dass sogar die Schiffe der isländischen Küstenwache (bekannt als erste Bezwinger der britischen Marine in einem Seekrieg) festlich beleuchtet waren. Rot ist übrigens die bevorzugte Farbe. Island wäre allerdings nicht Island, wenn es nicht auch einige Besonderheiten gäbe. Und so gibt es hier nicht einfach den Weihnachtsmann mit oder ohne rotnasigem Rentier – die Isländer kennen vielmehr Gryla, eine ehemals Kinder fressende Trollfrau aus den Bergen, die heute, das kommt wohl mit dem Alter, eher umgänglich geworden ist. Auch ihre dreizehn Schergen, ehemals Schrecken aller Kinder mit Namen wie ‚Fenster-Gucker’, verbreiten heute keine Angst mehr. Wenn sie in den dreizehn Tagen vor Weichnachten, einer an jedem Tag, im Nationalmuseum auftauchen, dann ist dies für die Kinder vielmehr ein kleines Fest mit Spaß und Gesang. Grýlas Lebensgefährte Leppalúđi ist mir persönlich allerdings, außer in Souvenirshops, nicht aufgefallen, ebenso wenig wie die zu den beiden gehörende ‚Weihnachtskatze’. Auffällig dagegen ist das traditionelle Vorweihnachtsessen, vor allem wegen des Geruchs – denn, wie sollte es anders sein, es gibt Fisch, und er ist verrottet. Da man über diese Tradition aber schon bei Spiegel.de ausführlich informiert wurde, spare ich diesen Part aus und erzähle stattdessen vom Leben in Reykjavik über die Festtage. Dieses ist nämlich ungewohnt ruhig, die Innenstadt wirkte über die kompletten Weihnachtstage gar wie ausgestorben. Um sich auf diese immerhin dreitägige und damit, wenn ich nicht irre, längste nicht verkaufsoffene Zeit im Jahr vorzubereiten benötigen die Isländer natürlich eine entsprechende Phase verstärkter Einkaufsmöglichkeiten. Diese fällt auf den 23. Dezember, an welchem die Geschäft in der Innenstadt Reykjaviks bis um 23.00 Uhr geöffnet haben. Am Abend des 23. stürmen also wahre Menschenmassen in die Innenstadt, lauschen Weihnachtschören, sehen Bildhauern dabei zu, wie sie Skulpturen aus Eis fertigen – und erledigen ihre letzten Einkäufe.
Nach Weihnachten verabschieden sich dann auch die dreizehn Jólasveinarnir wieder genau so, wie sie auch gekommen waren – jeden Tag einer. Und noch bevor am 6. Januar der letzte Weihnachtswichtel verschwunden ist, finden die Feierlichkeiten zum Jahreswechsel, der wie auch Weihnachten in den Volkssagen des Landes mit einigen Besonderheiten versehen ist, statt. Silvester kündigt sich dabei schon einige Tage vorher lautstark an. Die Isländer – oder zumindest einige von ihnen – scheinen nämlich eine sehr ausgeprägte Neigung zum Einsatz von Raketen und Krachern aller Art zu haben. So gewöhnt man sich in den Tagen unmittelbar vor dem 31. Dezember an den langsam zunehmenden Einsatz von Feuerwerkskörpern und ist sozusagen akustisch abgehärtet, wenn es dann eine halbe Stunde vor Mitternacht am letzten Tag des Jahres erst richtig losgeht. Dann nämlich verlassen die Isländer, oder zumindest diejenigen, die in der Hauptstadt das neue Jahr begrüßen wollen, ihre privaten Feiern und veranstalten ein großes, etwa einstündiges Feuerwerk (das aber auch danach nicht schlagartig vorüber ist – auch hierfür benötigen die Isländer wieder einige Tage des langsamen Abgewöhnens). Anschließend leeren sich die Straßen dann beinahe ebenso schnell, wie sie sich vor Mitternacht gefüllt hatten. Gefeiert wird aber selbstverständlich weiter, ob nun daheim oder in den nun allmählich öffnenden Bars ist eine reine Geschmacksfrage. Insgesamt aber, das bleibt festzuhalten, waren die beiden Wochenenden am Ende des Dezembers die ruhigsten, die ich hier in Island erlebt habe.
Reykjavik den 04.01.2005